Bankschließfach
Ein etwas anderes Projekt
Im Bankschließfach Nummer 79 schlummert das Manusskript einer jungen Frau, die ihre Erlebnisse in diesem Wien festhalten wollte, für die Nachwelt im Falle ihres Todes.
Aber weil Weihnachten ist, wollen wir diese Geschichten mit euch teilen, ohne dass jemand dafür sterben muss. Die Anekdoten beruhen auf realen Roleplay Erlebnissen und vielleicht findet sich ja der ein oder andere wieder.
Vielen Dank an alle hier, denn nur durch die Begegnungen mit euch konnte dieses Projekt entstehen und sich in unerwartete Richtungen entwickeln und vielen Dank an die beiden Vorleser, deren Stimmen ihr sicher wiedererkennen werdet.
Darum: lehnt euch zurück, genießt eine Tasse Punsch und ein paar Lebkuchen und lauscht…
Bitte denkt daran: Diese Geschichten dürfen nicht IC verwendet werden.
PROLOG
Wer interessiert sich schon großartig für das Leben einer einundzwanzig jährigen? Vielleicht keiner, vielleicht zwei?
Nachdem ich das Grab meines Großvaters hier in Wien besucht hatte, wurde mir klar, dass von mir eines Tages mehr überbleiben sollte als ein grauer Granitblock mit Namen und Daten.
Wenn ich schon keine Familie hatte, mit der ich meine Gedanken teilen kann, dann will ich sie eben der Welt mitteilen. Ich will Dinge sagen, die gesagt werden müssen, die ich aber vielleicht den Menschen nie ins Gesicht sagen würde, weil meine Stimme zu schüchtern oder zu leise oder zu unwichtig ist.
Doch genug der Vorrede kommen wir zur Geschichte. Einer Geschichte mit Höhen und Tiefen, witzigen Sprüchen und tragischen Ereignissen. Aber vor allem einer Geschichte der Hoffnung, der Hoffnung des Neuanfangs.
KAPITEL 1
Von Neuanfängen, Geschäftsmännern und Kavalieren
Mein Name ist Rebekka Scharfenstein, geboren am 10.01.2001 im St. Joseph-Stift Krankenhaus in Dresden, aufgewachsen in Rathen, am Fuße der Basteibrücke der Sächsischen Schweiz.
Allerdings soll das nicht der Startpunkt meiner Reise sein, denn meine Kindheit verlief wohl so normal, wie sie nur sein konnte. Ich beginne stattdessen mit einem Ort, den voraussichtlich jeder hier kennt: der Flughafen in Wien.
Der Himmel war klar, nur einzelne, bauschige Wolken zierten das Blau am Tag meiner Einreise. Cumulus, so hatte ich es in der Bergwacht gelernt, ganz am Anfang. Am Horizont wurden sie dichter und dunkler. Es sah nach Regen aus, doch zum Glück war ich fast da: Wien lag direkt unter uns, das Flugzeug flog die letzte Kurve, um dann Richtung Landebahn einzuschwenken. In der Ferne konnte ich die Gipfel der Alpen erkennen. Wehmut stieg in mir auf, in Erinnerung an die Wanderungen mit meinem Großvater. Wie oft war ich als Kind in diesen Bergen herumgeklettert? Opa kannte alle Wege und Pfade, jeden geheimen Aussichtspunkt, mystische Schluchten und windige Gipfel.
Allzu sehr konnte ich den Ausblick jedoch nicht genießen. Ich war müde, erschöpft, und auch ziemlich durcheinander und so lag ein flaues Gefühl schwer in meinem Magen, als ich die Gangway entlang zum Flughafengebäude schritt. Ein Beamter fragte mich nach meinem Ausweis. Ich fühlte mich überrumpelt, suchte hektisch nach meinem Portemonnaie und zog es schließlich so schwungvoll aus der Tasche, dass ich dem Polizisten hinter mir den Ellenbogen gegen das Kinn rammte.
Peinlich.
Zum Glück nahmen sie mir mein Missgeschick nicht übel, trotzdem hatte ich mir meinen Neuanfang irgendwie anders vorgestellt.
Und ein Neuanfang war es, oder eher ein “Bei-Null-anfangen”. Mein Gepäck bestand aus einem einzigen Rucksack. Mehr war mir nicht geblieben, nur das Nötigste. Ich kannte niemanden in Wien, konnte mich auch an keinen Straßenzug mehr erinnern. Ich wusste nur, dass hier mein Großvater gelebt hatte und dass wir ihn als ganze Familie oft besucht hatten und im Urlaub in den Bergen gewandert waren. Es ist die letzte glückliche Erinnerung an meine Familie, die nicht von dieser einen Nacht überschattet wurde. Denn Wien war nicht Rathen und deshalb war ich hierher gekommen: Um die schönen Erinnerungen wieder mit Leben zu füllen, die schrecklichen zu vergessen und den mitleidigen Blicken der Nachbarn und Bekannten zuhause zu entfliehen.
Mein Rucksack wurde durchleuchtet, draußen wartete ein Bus auf mich. Anscheinend war ich die Letzte gewesen, die durch die Kontrolle musste, denn kaum war ich eingestiegen, fuhr der Bus los. Der Busfahrer stellte mir ein paar Fragen, wie ich hieß, wo ich herkam. Die Art kam mir vertraut vor, obwohl er mit starkem wienerischen Akzent sprach. Unwillkürlich musste ich an unsere Busfahrer in Sachsen denken und über die Ähnlichkeiten schmunzeln. Busfahrer sind schon besondere Menschen. Vorbilder für Schulkinder, tragen eine große Verantwortung und haben ihre ganz eigene Art von Humor. Die Welt wäre arm dran ohne Busfahrer.
Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern, die mit im Bus saßen. Nur an einen noch recht jugendlich wirkenden jungen Mann, der wie ein Möchtegern-Gangster klang, die ganze Zeit Sonnenblumenkerne knabberte und diese dabei im ganzen Bus verteilte. Und an einen älteren Herrn, welcher, nachdem ihm der fünfte Sonnenblumenkern in den Kragen gefallen war, dem jungen Mann gehörig die Meinung geigte.
Ich war froh, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich zogen und ich in Ruhe den Erläuterungen des Busfahrers zur Stadt lauschen konnte. Allerdings verlor ich in dem Gewirr aus Brücken und Kreuzungen schnell die Orientierung. In den Bergen fiel es mir definitiv leichter, den Überblick zu behalten.
In den ersten Tagen sprach ich mit so gut wie niemandem. Ich erledigte Einkäufe im Billa, brauchte ein neues Handy und machte den österreichischen Führerschein. Und dann stand ich da, allein in der großen Stadt. War es richtig gewesen, hierherzuziehen? Ich kannte hier doch niemanden. Neu anfangen war doch nicht so einfach, wie ich gehofft hatte.
Die ersten beiden Personen, die ich in Wien kennenlernte, waren der Geschäftsmann und der Kavalier. Ich nenne sie der Einfachheit halber so, denn ich weiß nicht, ob es ihnen recht wäre, namentlich genannt zu werden.
Den Geschäftsmann traf ich im Stadtpolizeikommando. Wir warteten beide auf einen Beamten, der uns einen Strafregisterauszug ausstellen konnte. Er trug eine, um es diplomatisch auszudrücken, sehr interessante Kombination aus beigem Anzug und dunkelblauer Krawatte. Wir kamen ins Gespräch und unterhielten uns eine Weile, bis ein Polizist auftauchte und uns mitteilte, dass aktuell kein Beamter verfügbar sei. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man zumindest so, und darum beschlossen wir, die Zeit mit einer Stadtrundfahrt zu vertreiben. Gesagt, getan. Der Geschäftsmann holte sein Taxi von der Zentrale und dann ging es los. Von Wien Mitte die Autobahn hoch nach Mödlingen, weiter bis Wiener Neustadt und dann wieder zurück nach Wien. Wir legten einen Zwischenstopp ein, um die Lichter Wiens bei Nacht zu bewundern, und mich beschlich das Gefühl, dass er mit mir flirten wollte. Ich war unsicher, wie ich reagieren sollte. Natürlich, er war nett, und ich war froh, jemanden kennengelernt zu haben. Aber für mehr als Freundschaft war ich weder bereit noch wäre er wohl der richtige Typ dazu.
Also kommentierte ich kurz und höflich, als er mir den Prater zeigte und aufzählte, was man in Wien in seiner Freizeit alles machen konnte. Irgendwann kehrten wir zurück zum Stadtpolizeikommando.
Der Geschäftsmann stellte mir eine Rechnung aus. Gut, irgendwie hatte ich es kommen sehen. Aber ich war mir nicht ganz sicher gewesen, schließlich hatte er mich erst zu der Rundfahrt überredet und mit mir geflirtet.
Im Foyer des Polizeikommandos fragte mich der Geschäftsmann, wieso ich so hübsch sei. Die anwesenden Polizisten fanden die Frage sehr amüsant und bemühten sich nach Kräften, ihm Flirttipps zu geben.
Im Nachhinein war es eine urkomische Situation, doch vor Ort kam ich mir wie der größte Depp vor und blieb stumm. Was sollte ich auch sagen, es war das erste Mal in meinem Leben, dass jemand mit mir flirtete und mir fehlte die nötige Schlagfertigkeit, dem etwas entgegenzusetzen.
Eins hat der Geschäftsmann jedoch sicher: Den Platz der ersten Person, deren Nummer ich in meinem Handy abgespeichert habe.
Dank des Geschäftsmannes lernte ich auch den Kavalier kennen. Ich lief gerade an den Springbrunnen in Wien Mitte vorbei. Der Geschäftsmann stand mit seinem schwarzen Taxi auf dem Parkstreifen und versuchte, vorbeikommenden Passanten Wohnungen zu verkaufen oder abzukaufen. Wir unterhielten uns kurz, dann begrüßte er den Kavalier. Der Himmel war bereits seit geraumer Zeit dicht verhangen und so fing es wie zu erwarten an zu schütten. Vor dem Regen flüchteten wir zu dritt ins Taxi. Draußen trommelten die Regentropfen dumpf auf das Dach, drinnen redeten wir über alles Mögliche, auch darüber, dass ich eines Tages den Großglockner besteigen wollte, oder einfach mal eine Fahrradtour machen wollte. Gesagt, getan: Der Geschäftsmann fuhr los, über die Westautobahn nach Norden zum Fahrradverleih, währenddessen wurde auch der Regen weniger. Dort angekommen, erwartete uns eine doppelte Enttäuschung. Zunächst hatte der Geschäftsmann gar nicht vor, uns auf der Tour zu begleiten. Sowohl der Kavalier, als auch ich hatten eigentlich damit gerechnet. Stattdessen berechnete der Geschäftsmann lediglich die Fahrt, welche der Kavalier bezahlte, und fuhr dann mit seinem Taxi davon. Plötzlich standen wir alleine da, dabei kannten wir uns gar nicht.
Als Zweites hatte zu allem Überfluss der Fahrradladen auf unbestimmte Zeit geschlossen. Glücklicherweise hatte der Kavalier in der Nähe sein Auto in der Garage stehen und so lief er los, um es zu holen, während ich am Parkplatz auf ihn wartete. Zusammen fuhren wir zurück in die Stadt.
Warum ich ihn den “Kavalier” genannt habe? Wir haben uns danach noch öfters getroffen. Er war immer höflich und zuvorkommend, hat mir die Autotüre aufgehalten. Anfangs dachte ich, er hätte vielleicht Angst um sein Auto, aber nachdem er mich ein Stück damit fahren lassen hatte, musste ich diese Vermutung streichen. Wer jemanden mit meinen Fahrkünsten ans Steuer lässt, muss wohl Nerven aus Stahl haben. Aber so war er einfach schlicht ein Gentleman. Im Fitnessstudio rettete er mir einmal sogar das Leben.
Ich kann nicht mehr sagen, woran es genau lag, vermutlich hatte ich vorher beim Training übertrieben oder mit irgendetwas gezerrt. Jedenfalls, kaum dass ich ins Wasserbecken gesprungen war, schoss ein plötzlicher Schmerz durch meine rechte Wade, die sofort verkrampfte. Vor Schreck schnappte ich nach Luft – eine denkbar dumme Reaktion, wenn man sich gut einen Meter unter der Wasseroberfläche befindet. Statt Sauerstoff strömte Wasser in meine Luftröhre, ich versuchte zu husten – auch das ist ein sehr unsinniges Unterfangen unter Wasser – und verschluckte mich noch mehr. Ehe mich die aufsteigende Panik vollends um den Verstand bringen konnte, verlor ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, kniete ein Sanitäter neben mir. Der Kavalier musste mich wohl aus dem Becken gefischt und die Rettung verständigt haben. Die Polizei war ebenfalls vor Ort und ließ sich vom Kavalier den Unfallhergang erklären. Zur Sicherheit brachte man mich ins Krankenhaus, der Kavalier fuhr hinterher. Nach einigen Kontrollen wurde ich entlassen, nur leider waren irgendwo zwischen Fitnesscenter-Umkleide und Krankenhausbett meine Klamotten abhandengekommen. Der Kavalier schenkte mir einen etwas zu großen, grauen Pullover, den ich immer noch in Erinnerung an ihn aufbewahre.
Auch wenn ich den beiden inzwischen nur noch zufällig begegne und wir nichts miteinander zu tun haben, so bin ich doch dankbar für diese Begegnungen. Sie halfen mir, in Wien anzukommen und damit meine größte Sorge zu überwinden.
Rettet die Rettung
Auch wenn ich all mein Erlebtes möglichst für mich behalten wollte, so wollte ich dieses neue Leben nicht auf Lügen aufbauen. Und so beschloss ich, absolut ehrlich bei meiner Bewerbung zu sein.
Ich hatte inzwischen festgestellt, dass ich der Vergangenheit doch nicht entfliehen konnte. Im Henhouse mit dem Kavalier bekam ich eine Panikattacke. Die lodernden Flammen des Grills erinnerten zu sehr an das brennende Haus. Zum Glück lief es recht glimpflich ab und die Mitarbeiter vor Ort reagierten sehr verständnisvoll und bauten sogar draußen einen Klapptisch und Stühle auf, damit wir dort weiter essen konnten.
Aber ich musste mir nach diesem Ereignis eingestehen: Feuer ist für mich ein Problem.
Und genau das erzählte ich auch dem Kommandanten der Berufsrettung und dem Chefarzt beim Vorstellungsgespräch. Mir war das Risiko bewusst, und ich wüsste selbst nicht, ob ich mich eingestellt hätte. Ein Rettungssanitäter, den man nicht zu Wohnungsbränden, Tankstellenexplosionen oder brennenden Autowracks schicken konnte, war doch sehr eingeschränkt in seiner Handlungsfähigkeit. Aber es war schon in Deutschland mein Ziel gewesen, Menschen zu retten. Auch wenn dieser Traum damals mitsamt meinem restlichen Leben in die Brüche ging, wollte ich ihn nicht aufgeben.
Sie gaben mir die Chance. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich gewesen, wie an diesem Tag, als man mich ins Büro rief und die Zusage verkündete.
Ich hatte es geschafft, ich war angenommen worden.
Es folgte eine spannende Zeit der Ausbildung. Ich lernte viel, auch viele Unterschiede zwischen dem österreichischen und dem deutschen Rettungswesen. Die Einsätze waren vielseitig und ja, natürlich kam ich auch an meine Grenzen.
Noch in meiner Praktikumszeit wurden wir zu einem unklaren Einsatz alarmiert. Die Leitstelle hatte so gut wie keine Informationen bezüglich des Unfalls.
Am Berufungsort angekommen, lag vor uns ein ausgebranntes Auto – Folge einer explodierten Tanksäule. Flammen waren keine mehr zu sehen, doch der Geruch von geschmolzenem Gummi, rauchigem Metall, Hühnchen und verbranntem Öl füllte noch immer die Luft. Aber das Heftigste waren wohl die schwarz krustigen Überreste eines menschlichen Körpers.
Der Geruch stieg mir in die Nase und plötzlich mischte er sich mit diesem einen Gestank von schwelendem Holz, der mich oft in meinen Albträumen verfolgte.
Mein Blick verschwamm. Der Körper des toten Autofahrers verformte sich, das Gesicht nahm die Züge von Moritz an. Man hatte mir zwar nie die Leiche meines kleinen Bruders gezeigt, doch mein Gehirn hatte sich längst ein Bild aus Beispielfotos von Verbrennungen und dem Aussehen von Moritz zusammengepuzzelt. Und dieses Bild tauchte nun so lebendig vor mir auf, dass ich vor Schreck erstarrte. In einem verzweifelten Versuch, der pochenden Panik zu entfliehen, rannte ich los, in den nahegelegenen Wald. An einen Baumstamm gelehnt, sank ich auf den Boden und versuchte, meine Atmung zu kontrollieren. Irgendwo wusste ich, dass dieses Bild nicht real war, doch dieses Wissen schien nicht in dem Teil meines Kopfes anzukommen, wo es gebraucht wurde.
Es tut mir heute noch leid, wie mein Kollege völlig verblüfft an der Einsatzstelle zurückblieb und schließlich der Leitstelle funkte, seine Praktikantin sei soeben im Wald verschwunden.
Der Kommandant der Berufsrettung hörte den Funkspruch mit, wusste sofort Bescheid und holte mich persönlich ab. Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken.
Solche Erlebnisse sind alles andere als schön. Aber sie haben mir gezeigt, dass ich Schwächen haben darf und das in Ordnung ist, und dass es Menschen gibt, auf die ich mich verlassen kann.
Mit der Zeit entwickelte ich Strategien, um Feuer zu umgehen. Wenn es sich doch nicht ganz vermeiden ließ, stellte ich meinen RTW als Barriere zwischen mich und das Feuer und rechnete im Kopf Matheaufgaben, um mich abzulenken.
Eine ganze Weile lief es ganz gut auf diese Art und Weise. Bis eines Tages in der Tiefgarage des AKHs ein Auto direkt neben mir in Flammen aufging. Ich weiß nicht, warum, aber dieser plötzliche Brand warf mich unvorbereitet zurück in jene Nacht. Auf einmal stand ich wieder in meinem Zimmer, im dunkelblauen Schlafanzug. Der alarmierende Geruch von Feuer in der Luft, das ungewöhnliche Knistern hinter der Tür, der einzige, laut schreiende Gedanke in meinem Kopf: Raus!
Ich rannte los, überall Rauch, ich streifte die Flammen am Treppenhaus. Die Hitze nahm ich kaum wahr, zu unwirklich erschien sie mir und das Adrenalin ließ mich keine Schmerzen oder Erschöpfung spüren. Ich rannte, rannte immer weiter, hielt draußen nicht an, hörte nicht die Rufe der Nachbarn, lief immer weiter, bis mich jemand am Arm packte, schüttelte, anschrie und zur Besinnung brachte. Zumindest damals. Nun rannte ich quer durch Wien, das sich für mich in die Straßen von Rathen verwandelt hatte, bis ich stolperte, hinfiel und verschreckt sitzen blieb. Sofort kamen mir Moritz und meine Eltern in den Sinn. Ich musste doch Hilfe holen, sie schliefen doch eine Etage über mir, mitten im Feuer. Die Angst war wieder da, die überwältigende Panik vor dem Gedanken.
Im Reflex muss ich wohl den roten Notfallknopf am Funkgerät gedrückt haben. In der allgemeinen Aufregung im Krankenhaus, aufgrund des Feuers, war mein Verschwinden noch nicht aufgefallen, nun begann eine neue Hektik. Die eintreffenden Einsatzkräfte konnten nicht viel mit meinen halben Satzfetzen anfangen, sie suchten einen Hausbrand in Wien, während ich noch immer im Kopf in einem Feuer in Rathen feststeckte.
Mein Flashback verursachte einen Großeinsatz mit Feuerwehr, Rettung und Polizei, bis schließlich der Chefarzt dem ganzen auf die Spur kam.
Es war wie ein langsames Wachwerden nach einem verwirrenden Fiebertraum, als ich allmählich wieder klar denken konnte. Ich konnte mich nur bruchstückhaft daran erinnern, was davor und währenddessen passiert ist.
Aber danach stand fest: So kann es nicht weitergehen. Gespräche mit Psychologen, Konfrontationstherapie … Der Kopf ist wie das Internet: Was einmal drin ist, bekommt man nie wieder ganz heraus. Wir vergessen nicht, schieben nur Dinge ins Unterbewusstsein und zu ungünstigen Zeitpunkten können sie wieder hervorbrechen, wie ein Geysir, der sein Wasser zu willkürlichen Zeiten ausspeit.
Zwei Personen, die sich viel Mühe dabei gaben, waren zum einen der Chefarzt des AKHs, der mit mir immer wieder zu Brandeinsätzen fuhr, mich in sicherem Abstand parken ließ und so weit mit mir mitging, wie ich mir zutraute.
Zum anderen war es Hansen, aber Hansen ist eigentlich ein Kapitel für sich.
Hansen!
Ich hatte bereits meine Prüfung zur Rettungssanitäterin bestanden, als Hansen als Praktikant zu uns kam. Er fuhr oft bei mir auf dem RTW mit. Die Chemie stimmte und wir konnten gut zusammenarbeiten.
Er gehörte zwar auch eher zu der Sorte Menschen, die nie so ganz erwachsen werden und immer den Schalk im Nacken sitzen haben, aber er war nicht unverfroren frech, wie manch anderer Praktikant. Zudem wusste Hansen auch, wann es genug war, oder zumindest meistens. Wenigstens hörte er auf das, was ich sagte.
Und ich musste oft etwas sagen. Wahrscheinlich stammte Hansen insgeheim aus einer Zeit vor 1958, denn wenn er etwas vergaß, dann war es das Anschnallen. So wurde “Hansen, Anschnallen!”, wohl zu meinem zweithäufigsten Satz, ihm gegenüber, gleich nach einem einfachen “Hansen!” in strenger oder genervter Tonlage.
Zu seiner Rechtfertigung muss ich aber auch sagen, dass ich ihn wohl häufig mit meiner Abenteuerlust überrumpelt hatte.
Die erste gemeinsame Wanderung, zu der er mitkam, weil ihm schlicht und ergreifend dermaßen langweilig war, dass er sogar zu Sport bereit war, entwickelte sich mehr und mehr zur Kletterpartie über steile Abhänge bei Nacht und Nebel. Trotzdem war er dabei und hielt durch bis zum Schluss.
Ich glaube, ich war für ihn ein Anstoß, selbst seine Umwelt zu erkunden und sich für kleine Besonderheiten zu begeistern. Denn später kam er von selbst immer wieder mit neuen Orten an.Eine Bucht mit riesiger Höhle oder ein Sumpfgebiet, das ich ohne ihn wohl nie entdeckt hätte.
Wir waren viel zusammen unterwegs, freundeten uns an. Zu Beginn war es dieses typische “zwei einsame tun sich zusammen, damit sie nicht einsam sind”, doch mit der Zeit lernte ich ihn als guten Freund schätzen. Da war nun neben der Arbeit bei der Berufsrettung und dem AustriaX-TV, eine zweite, persönliche Konstante in meinem Leben. Jemand, der mir Halt gab, der immer da war, fast wie ein großer Bruder, wobei, bei dem Blödsinn, der Hansen im Kopf herumspukte, war es wohl mehr ein kleiner Bruder. Ein kleiner Bruder, auf den man aufpassen musste, der Quatsch machte, aber einen auch immer wieder zum Lachen brachte… Nein, Hansen konnte Moritz nicht ersetzen, das konnte niemand, aber ich hatte ein winziges Stück Familie zurück.
Und ausgerechnet dieses Stück Familie hätte ich beinahe verloren. Es lag nicht an einer dummen Aktion von Hansen, sondern der Fehler lag bei mir. Ich hatte etwas erzählt, was er mir im Geheimen anvertraut hatte – um denselben Fehler nicht noch einmal zu begehen, werde ich das hier nicht weiter erklären – und verständlicherweise war er danach enttäuscht von mir. Ich hatte mir gar nichts dabei gedacht, erst viel zu spät fiel es mir auf. Danach herrschte zunächst Funkstille. Ich machte mir zum Teil ernstlich Sorgen um ihn.
Schließlich trafen wir uns in der Naturschutzhütte, in der wir nicht lange zuvor beschlossen hatten, einen Verein zum Schutz der Natur zu gründen, um zu reden. Er erklärte seine Sicht, ich meine. Doch was sollte ich schon groß sagen. Denn ich wusste, dass er Recht hatte, und ich Mist gebaut hatte und eine bloße Entschuldigung nicht ausreichte. Als er dann meinte, unter diesen Umständen sei keine Freundschaft möglich, konnte ich ihm nur zustimmen. Wir legten die Beziehung auf Eis.
Ich verließ die Hütte mehr wie in Trance als bei Bewusstsein. Es war der erste harte Schlag nach der Ruhe nach dem Sturm, aber der saß. Ich hatte einen guten Freund verloren, und ich war selbst schuld und ich konnte es einfach nicht wieder ungeschehen machen. Nebenbei musste ich so spielen, als sei nichts gewesen, als ein paar Kollegen der Rettung auftauchten. Ich wollte nicht, dass sie alles mitbekamen, das war eine Sache zwischen mir und Hansen.
Auch wenn ich wusste, dass unsere Freundschaft allein von der Bereitschaft von Hansen, mir zu vergeben, abhing, so wollte ich wenigstens noch das sagen, was mir in der Naturschutzhütte nicht über die Lippen gekommen war.
Daher nutzte ich die folgende Auszeit für ein neues literarisches Werk, nicht für den AX-TV, sondern für Hansen, einen absoluten Kakaoliebhaber:
Verschütteter Kakao
Ich weiß es ganz genau,
Du musst nicht fragen,
Nicht viel sagen,
Denn ich weiß du hast recht.
Was soll ich erklären, dafür braucht es keine Worte,
Weiß doch selber ganz genau, wo der Fehler lag, von welcher Sorte,
Einer der übelsten
Die man wohl machen kann.
Und verschütteten Kakao bekommt man nicht zurück
Jedes unbedachte Wort, zerstört nur weiter,
Noch ein Stück, noch ein Stück
weiter weg von Freundschaft
was soll ich entschuldigen, hab Vertrauen verspielt,
mit scharfer Waffe gezielt,
kann die Uhr trotzdem nicht linksherum drehen
und wenn du mich jetzt hasst
was sollte ich tun
außer schweigen
und dich ziehen lassen?
Denn verschütteten Kakao bekommt man nicht zurück
Jedes unbedachte Wort, zerstört nur weiter,
Noch ein Stück, noch ein Stück
weiter weg von Freundschaft
mir bleibt nur Erinnerung, und wieder geht etwas kaputt
und diesmal bin ich wirklich schuld
nach einem Brand bleibt nur noch Schutt
auch wenn er nur im Herzen war.
Weiß nicht, ob du Vergebung kennst,
doch das kann man nicht erzwingen
Wunden brauchen ihre Zeit,
heilen auch nie, in solchen Dingen
habe ich mehr Erfahrung,
als du denkst.
Und verschütteten Kakao bekommt man nicht zurück
Jedes unbedachte Wort, zerstört nur weiter,
Noch ein Stück, noch ein Stück
weiter weg von Freundschaft
Kann ja doch nicht mehr sagen
außer “Es tut mir leid”
und hoffen und warten
das jemand verzeiht.
Noch bevor ich den PoetrySlam vortragen konnte, hatte mir Hansen schon verziehen. Die Zeit ohne unsere gemeinsamen Unternehmungen war ihm so lang und öde vorgekommen, und als ich einmal wieder wegklappte, weil sich ein Auto entzündet hatte, aus dem ich gerade einen Patienten befreien wollte, machte er sich ernstlich Sorgen um mich. Trotzdem las ich es ihm vor, geschrieben ist geschrieben.
Wir hatten immer wieder Streitpunkte, aber das war normal. Zum Beispiel störte es mich sehr, dass er mich so oft einlud. Ich war doch erwachsen und selbstständig, ich wollte selbst für mein Essen zahlen, während er sich freute, etwas zurückgeben zu können. Aber ich wollte überhaupt nichts zurückbekommen. Ich wollte, dass er selbst blieb und sich selbst fand. Denn was ist schon eine Beziehung wert, in der der eine den anderen komplett nach seinen Wunschvorstellungen verändert.
Wir redeten darüber. Erst wirkte er ziemlich getroffen, es tat mir fast schon wieder leid, das Thema überhaupt zur Sprache gebracht zu haben. Schließlich verstanden wir aber die jeweils andere Sichtweise.
Hansen und ich haben eine ähnliche Art, auf Beziehungsprobleme zu reagieren. Zunächst der Rückzug, entweder einsam schmollen oder sich allein den Kopf zerbrechen… und der andere nervt dann so lange, bis er weiß, wo du bist. Dann reden wir wieder miteinander, manchmal braucht es auch mehrere Anläufe.
So wie an dem Tag, an dem ich Hansen am LKH Mödling vergaß.
Wobei, eigentlich hatte ich ihn nicht vergessen. Den Dienst begonnen hatten wir zu dritt. Nachdem wir eine Weile gelangweilt durch Mödling gestreift waren, wurden wir zurück nach Wien beordert. Allerdings liefen die Funksprüche etwas durcheinander. Erst hieß es, wir hätten einen Einsatz, dann einfach nur einrücken zur Wache und dann die Frage, wie viele RTWs wir besetzten und hin und her.
Schlussendlich fuhren mein Kollege und ich los, Richtung AKH und Hansen blieb zurück.
Erst war es mir gar nicht so bewusst, ich tat es als Versehen ab. Doch dann war Hansen den Rest des Tages angefressen und mir wurde klar, was eigentlich passiert war. Ich hatte ihn zurückgelassen.
Zurückgelassen.
Und plötzlich entstand eine neue Angst in mir. Hatte ich nicht schon damals alle zurückgelassen und war feige davon gerannt? Was, wenn es wieder passieren würde? Würde ich Hansen im Feuer zurücklassen?
Weil ich mit Hansen nicht reden wollte, weil ich plötzlich die Sorge hatte, schlecht für ihn zu sein, stand ich mit meinen Sorgen schließlich verheult bei der Freiwilligen Feuerwehr vor der Tür. Ich hatte dem alten Hasen geschrieben und gefragt, ob er Zeit hätte.
Der “alte Hase” war keinesfalls alt, er lebte einfach schon so lange in Wien, dass er so ziemlich jeden Winkel und jede wichtige Person hier kannte. Ich hatte ihn vorm AKH kennengelernt, kurz nach meiner Ankunft in Wien. Solange man nicht mit ihm darum diskutierte, wer recht hatte, war er ein sehr gemütlicher Mensch. Wann immer mir ein Missgeschick passierte, fragte ich ihn um Hilfe. Er schien alles zu wissen und er war eben auch in der Freiwilligen Feuerwehr.
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, vom Feuer, von meiner Familie, von Hansen. Der alte Hase hörte zunächst einfach nur zu, dann versuchte er, mich zu beruhigen und schlug vor, mir bei meinem Feuerproblem zu helfen.
Zwischendurch hörte ich kurz die Stimme eines Kollegens von der Berufsrettung, ich nenne ihn den Trickster, der sich anscheinend bei dem Regenwetter draußen unterkühlt hatte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es tatsächlich so war oder er einfach einen Vorwand gesucht hatte, in die Wache zu kommen und Hansen ihn eventuell geschickt hatte. Denn die beiden waren ziemlich gut befreundet und zusammen wohl die größten Kindsköpfe, die es gibt. Trotzdem konnte ich den beiden schlecht etwas wirklich übel nehmen.
Auf alle Fälle brachte einer der Feuerwehrmänner dem niesenden Trickster einen Tee in den Flur, während der alte Hase und ich weiter sprachen.
Danach war ich zumindest so weit beruhigt, dass ich wieder bereit war, mit Hansen zu sprechen. Wir trafen uns auf der Dachterrasse des Fischrestaurants an der Autobahn, dort, wo wir unsere allererste Wanderung gestartet hatten.
Hansen war enttäuscht, nicht, dass ich ihn vergessen hatte, sondern weil wir eigentlich abgemacht hatten, immer über alle Probleme zu reden. Nun, jetzt redeten wir auf alle Fälle und sprachen die Schwierigkeiten an. Und siehe da, es kam alles wieder in Ordnung, allein durch Reden.
Der AustriaX-TV
Ich kam mehr zufällig zum AustriaX-TV. Redakteurin zu werden, war nie mein Plan gewesen. Doch ein beiläufiges Gespräch mit „dem Chef“ weckte mein Interesse. Literarisch kreativ, das lag mir. Aber Einsätze dokumentieren und fremde Leute anquatschen, das konnte ich mir nicht vorstellen. Jedoch war ich bereits so weit in Wien angekommen, dass ich bereit war für neue Abenteuer: Ich wurde Praktikantin. Meine erste Story, die Hochzeit zweier Lost MC Mitglieder, bekam ich von meinem Chef zugeteilt. Anfangs brauchte es noch große Überwindung, die Leute anzuschreiben, zu fragen, Informationen zu bekommen. Mit der Zeit wurde es etwas einfacher.
Einen Chef wie diesen gibt es wohl kein zweites Mal. Ich musste mir keine Sorgen wegen Schwierigkeiten mit irgendwem machen. Mein Chef regelt. Und mit meinem Chef wollte sich auch niemand groß anlegen. Denn er verhielt sich absolut korrekt, höflich, aber nicht einschmeichelnd und kannte sich mit den Gesetzen manchmal besser aus als die Polizei. Erst später wurde es schwieriger, als der AustriaX-TV auch in den Besitz sensiblerer Informationen kam. Einmal wurde sogar ein Kollege entführt. Ich glaube, ich habe meinen Chef noch nie so nervös und wütend erlebt, als er unermüdlich versuchte, an Informationen über den Verbleib seines Mitarbeiters zu kommen.
Doch zurück zu meinen Anfängen als Journalistin. Da ich weniger der Ereignisreporter war und mehr beobachtete, stand mein Einsatzgebiet schnell fest: Ressort Umwelt und Natur.
Ich liebe es, unterwegs zu sein. Zufällig entdeckte ich von einer kurvigen Landstraße aus ein vertrocknetes Bachbett. Meine Neugier war geweckt. Etliche Recherchestunden später, nach Interviews mit der Umweltbehörde, einem Förster und örtlichen Bauern, deren Dialekt ich zu achtzig Prozent nicht verstand, aber es mir zu peinlich war, noch einmal nachzufragen, war meine erste Reportage fertig. Zudem wurde ich um die Erkenntnis reicher, dass ich a) eine Allergie hatte und b) vorher Bescheid sagen sollte, bevor ich allein irgendwo in der Wildnis herumkraxelte. Während ich Fotos von der kleinen Schlucht, die das Wasser mit der Zeit in den Boden gefressen hatte, machen wollte, stach mich eine Biene seitlich in den Hals. In Sekundenschnelle schwoll der Stich an und plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Ich alarmierte die Rettung, gab im Funk an meinem Chef durch, dass ich Hilfe brauchte, dann rutschte mir das Funkgerät aus der Hand. Ich wollte danach greifen, aber vom Sauerstoffmangel wurde mir schwummrig vor Augen, ich fiel hin. Wie lange ich dort mitten im Wald lag, weiß ich nicht. Die Rettung suchte nach mir, mein Chef mit dem Redaktionsteam und auch die Feuerwehr. Diese fand mich dann zuerst. Der Notarzt vernebelte Combivent, ich wurde ins Krankenhaus gebracht, ein paar Tage später der Allergietest: Wespen und Bienen waren nun meine Todfeinde. Bei einer weiteren Wanderung verstauchte ich mir den Knöchel. Eine andere Kollegin schaffte es, sich mit dem Finger am Papier zu schneiden und daraufhin umzukippen. Die diversen Autounfälle unserer Mitarbeiter will ich gar nicht erst aufzählen. Als Redakteur lebt, man gefährlicher als man denkt. Doch dazu später mehr.
Impulsiv und Rücksichtsvoll
Eine neue Eskalation mit Hansen. Wir standen mit dem RTW bei Wien Mitte, hatten nichts zu tun und ich weiß bis heute nicht, wie es dazu gekommen ist, derart zu eskalieren. Unser Praktikant tippte auf dem Handy, plötzlich stolperte er und schubste Hansen aus Versehen leicht, und Hansen reagierte, eben typischerweise, indem er zurückschubste. Statt das nun einer der beiden aufhörte und sich entschuldigt, schaukelte sich das ganze hoch. Auf mich hörte schon lange keiner mehr. Als ich versuchte, dazwischenzugehen, bekam ich selber eine Faust ins Gesicht. Schließlich ging der Praktikant nach einem kurzen Handgemenge zu Boden und verlor zeitweise das Bewusstsein.
Ich war sauer. Ich bin wirklich selten sauer, aber in dem Moment war ich einfach derart wütend. Wie konnte es denn sein, dass sich zwei Mitarbeiter der Berufsrettung in aller Öffentlichkeit gegenseitig niederschlugen?
Um das ganze zu klären, wollte ich zurück ins AKH fahren, damit die Gemüter abkühlten, ohne neugierige Blicke von Passanten. Doch stattdessen schlug Hansen als Fahrer den Weg zum nächsten Einsatz ein.
Ich war fassungslos. Ich würde doch jetzt sicher nicht mit zwei Leuten, die sich gerade bewusstlos geprügelt hatten, einfach zum nächsten Einsatz fahren, als sei nichts gewesen. Jedoch wollte Hansen immer noch nicht auf mich hören, auch nicht, als ich durchfunkte und fragte, wer gerade der Höchstrangige im Dienst war. Schlussendlich stieg Hansen bei der nächsten Kreuzung einfach aus und ging davon. Ich fuhr frustriert mit meinem Praktikanten zurück zum AKH.
Kurze Zeit später wurden wir zu einem Verkehrsunfall gerufen. PKW gegen Wand. Eine verletzte Person. In der Uniform der Berufsrettung. Notarzt bereits vor Ort, Polizei ebenfalls. Ein Polizist quatschte mich von der Seite an. Ob ich die Frau Scharfenstein wäre. Ihm hätte jemand erzählt, ich sei schuld am Unfall, weil ich den Kollegen dort am Boden gemobbt hätte. Ich überhörte das ganze, hatte keine Zeit, mich um diesen Vorwurf zu kümmern, hatte nur Augen für Hansen, der dort bewusstlos am Boden lag. Zudem war ich viel zu aufgebracht. Wütend vor Sorge, wütend, weil ich erst gestern mit ihm geredet hatte, dass ich Angst davor hatte, ihn zu verlieren. Und nun brachte er sich mit seinen dummen Kurzschlussreaktionen dermaßen in Gefahr.
Es sah übel aus, doch Hansen überlebte. Kaum war er in seinem Krankenhausbett wieder bei Bewusstsein, erklärte er seine Kündigung. Zum Glück meinte der anwesende Oberarzt, er nehme Kündigungen nur schriftlich an und so blieb es bei einer kurzen Zwangspause.
Trotz seiner Unüberlegtheit konnte Hansen sehr wohl auch rücksichtsvoll sein. Nachdem er von meinem Feuerproblem gewusst hatte, achtete er sehr darauf, dass ich bei entsprechenden Einsätzen Abstand halten konnte. Wenn es zu stressig wurde, hatte er immer ein paar Kopfhörer dabei, sodass ich im Fahrzeug sitzen bleiben und Musik zur Ablenkung hören konnte. Er fragte, wie es mir ging, ob es mir zu viel wurde. Und gleichzeitig übte er mit mir, mich dem Feuer wieder zu nähern und mir klarzumachen, dass ein kleines Lagerfeuer und ein Haus in Vollbrand ein großer Unterschied waren und ich in sicherer Entfernung vor keinem von beidem Angst haben musste.
Hackerangriff
Womit eine kleine Lokalzeitung, die gerade erst gegründet wurde, wohl als letztes rechnet, ist ein Hackerangriff. Sicher, wir hatten einige Informationen, die für den ein oder anderen recht brisant sein könnten. Aber dass jemand dermaßen viel Wert darauf legte, an dieses Wissen zu kommen, das er selbst vor Entführungen nicht zurückschreckte, hätte ich nie geglaubt.
Aufgrund einiger Vorkommnisse in der Vergangenheit, wurde entschieden, die Daten der AX-Media Group über eine Festplatte auf einen neuen, sichereren Server zu bringen. Dass ein gewisses Grundrisiko herrschte, wurde in der Vorbesprechung klar. Drei gleiche Fahrzeuge sollten für Verwirrung sorgen, vorsichtshalber sollten wir Schutzwesten tragen. Der Konvoi stand gerade bereit, wir hatten noch eine gute halbe Stunde Zeit, da meldete sich mein Chef nicht mehr im Funk. Wir brachen die Aktion ab und fuhren zum letzten bekannten Standort unseres Chefs. Dort, auf dem Parkplatz, stand allein und verlassen sein Sendewagen. Kurz darauf rief mich eine unbekannte Nummer an und fragte, ob wir irgendwelche Lösegeldforderungen bekommen hätten. Ich war skeptisch, schließlich hatten wir eben erst das Verschwinden unseres Chefredakteurs bemerkt und tat, als wüsste ich von nichts. Auf Nachfrage bei der Polizei erfuhren wir, dass der ominöse Anrufer tatsächlich ein Exekutivbeamter war, der im Fall ermittelte, und es anscheinend ein weiteres Entführungsopfer gab. Die Polizei machte sich an ihre Arbeit und wir? Wir standen vorm SPK1 herum und wussten nicht wohin mit uns. Wir sollten zur Sicherheit hier bleiben, gleichzeitig erfuhren wir keinerlei Hinweise, was mit meinem Chef war. So warteten wir eine Weile, dann wurde es uns zu fad. In zweier Teams schwärmten wir aus, in der Hoffnung, irgendwo eine Spur zu finden. Ich fuhr mit Hansen. Bei ihm fühlte ich mich sicher, tatsächlich sogar wohler als beim SPK1. Im Internet tauchten Bilder von meinem Chef und dem zweiten Opfer, einem hochrangigen Polizisten, auf. Der Hintergrund war zu verschwommen, um daraus Schlüsse zu ziehen. So fuhren wir recht planlos kreuz und quer durch Stadt- und Industrieviertel, bis plötzlich eine Gestalt unsere Aufmerksamkeit fesselte. Hellblaues Hemd, beige Hose, das konnte nur mein Chef sein. Die Hände seltsam hinter dem Rücken verschränkt, rannte er hilflos über die Straße. Wir holten ihn ein, konnten ihn beruhigen. Die Polizei kam nach, das Redaktionsteam atmete auf. Die Informationen waren futsch. Aber immerhin unseren Chef hatten wir lebendig wieder bekommen.
Danach wurde es ruhiger. AX-TV wurde in die AX Media Group umbenannt. Es gab diverse Vorfälle, Stress mit der Polizei, Stress mit kriminellen Gruppen, Stress mit Mitarbeitern… aber alles in einem überschaubaren, alltäglichen Rahmen. So alltäglich eben, wie mit einer Taschenlampe bewusstlos geschlagen zu werden. Insgesamt hatte ich jedoch den Eindruck, dass wir recht gut mit allen Parteien kommunizieren und kooperieren konnten. Natürlich dauerte es seine Zeit, bis sich alle daran gewöhnt hatten, aber dann ging alles seinen geregelten Gang.
Goodbye Hansen
Nichts Gutes ist von langer Dauer – ich weiß nicht mehr, wo ich dieses Zitat einmal aufgeschnappt habe. So überraschend wie er gekommen war, verschwand Hansen wieder aus meinem Leben. Er hatte bei der Berufsrettung gekündigt und tauchte nicht mehr auf. Ich wusste nicht, ob er Wien verlassen hatte, ob er untergetaucht war, ob er auf die kriminelle Seite gewechselt war. Er meldete sich nicht mehr. Natürlich war ich enttäuscht und trauerte der Freundschaft nach. Denn vielleicht wäre es sogar mehr geworden, als nur Freundschaft. Doch auf der anderen Seite war ich froh. Froh darüber, dass Hansen er selbst blieb. Der spontane Sturkopf, der sich nichts sagen ließ, der das tat, was ihm gerade einfiel und richtig erschien. Ein Wanderfalke ist kein Wellensittich, den man in einen Käfig stecken kann. Er ist geboren, um zu fliegen, frei zu fliegen, weit zu fliegen. Und auch wenn es weh tut loszulassen, ist es ein ganz anderes Gefühl, jemanden in Frieden ziehen zu lassen, damit er sein Leben leben kann, als wenn jemand abrupt aus dem Leben gerissen wird. Mit der Zeit habe ich meinen Frieden damit gefunden. Trotzdem hoffe ich manchmal, Hansen zufällig wieder über den Weg zu laufen. Wie damals, bei unserer ersten Begegnung. Erst viel später fanden wir heraus, dass er der Patient in der Vienna Values Tiefgarage gewesen war, den ich nach einem Fahrradsturz mit Verdacht auf Schädelhirntrauma ins AKH gebracht hatte. Ich glaube, da war ich sogar noch Praktikantin gewesen. Wie dem auch sei, Hansen war weg und ich musste damit leben. Er hat mir viel beigebracht, mir oft weitergeholfen und ich muss ehrlich zugeben, ohne ihn im Rettungswagen machte die Arbeit kaum noch Spaß. Darum widmete ich mich mehr und mehr der AX-Media Group und dank Hansen konnte ich inzwischen auch bei Großbränden fotografieren.
Ein gefährliches Pflaster
Ich stand mit meinen Kollegen bei Wien Mitte. Dank unermüdlicher Überzeugungsarbeit meines Chefs hatten wir zunächst drei neue Praktikanten auf einen Schlag, am nächsten Tag kam ein weiterer dazu. Wir unterhielten uns entspannt mit einigen Passanten. Zum einen, um Langeweile zu vertreiben, aber natürlich auch, um neue Kontakte zu knüpfen. Einer der Leute, mit grünem Oberteil bekleidet, also mutmaßlich ein Gärtner, stieg schließlich in sein Auto.
Damit meine ich nicht wirklich einen Gärtner, der Hecken schneidet und Blumenbeete pflegt. Die Gärtner waren eine Straßengang in Wien, und aufgrund ihrer grünen Kleidung und ihrer Vorliebe für gewisse Pflanzen, finde ich diese Bezeichnung ganz passend.
Kaum war der Gärtner eingestiegen, kamen plötzlich mehrere Funkwagen der Polizei herangeschossen und parkten das Fahrzeug des Mannes zu. Er versuchte noch aus der Lücke zu kommen, rammte dabei den Volvo des Chefs und einen unserer Ax-Media Vans, dann fielen auf einmal Schüsse.
Sicherlich, als Journalist sucht man gerade gefährliche Situationen, da diese die spannendsten Storys verbergen. Aber lebensmüde sind wir nun auch nicht. Wir flüchteten in den nahegelegenen Billa. Als die Schüsse verklungen waren, trauten wir uns bis zum Fenster vor, um Bilder zu machen. Dann warteten wir darauf, dass die Polizei zu uns käme, um Entwarnung zu geben. Das dauerte eine Weile, aber das ist ja auch nur logisch. Gerade bei Gangmitgliedern weiß man nie, ob nicht plötzlich Verstärkung irgendwo auftaucht.
Die Gangs in Wien sind jedoch generell sehr interessant. Denn es steckt viel mehr dahinter, eine viel größere Dynamik, als einfach nur eine Gruppe von Leuten, die wild um sich schießend Verbrechen begeht. Da geht es um Zusammenhalt, um Familie ohne Blutsverwandtschaft, um gegenseitige Unterstützung und Vertrauen. Es ist eine besondere Art der Lebensgemeinschaft, die für uns Außenstehende wohl schwer zu verstehen ist. Einen kleinen Einblick hatte ich, als bei einem Motorradunfall eine schwarze Hyäne ums Leben kam. Durch nichts könnte diese wertvolle Möglichkeit, sich gegenseitig zu trösten und Halt zu geben, ersetzt werden.
Die schwarzen Hyänen gehörten zu einer weiteren kriminellen Gruppierung Wiens und je näher ich sie kennenlernte, desto passender wurde dieser Name, den ich ihnen im Kopf gegeben hatte. Offiziell handelte es sich um einen Motorradclub, an dessen Spitze ihre Königin stand.
Selbstverständlich muss man die kritischen Aspekte im Blick behalten, Gewaltbereitschaft und Kriminalität sind unter Gangangehörigen meist höher als unter den Durchschnittsbürgern. Doch leider geht bei all den negativen Berichten die Vielfalt verloren. Oder hättest Du von der Tierliebe der Gärtner gewusst, die sich aufopferungsvoll um ausgesetzte und misshandelte Tiere kümmern? Vom Talent der schwarzen Hyänen Grillfeiern zu geben und Boxkämpfe auszutragen? Und bei den wichtigsten Ereignissen im Leben hilft sogar die Polizei mit, so wurde dank einigen Exekutivbeamten die Hochzeit zweier Hyänen zu einer spannenden Schnitzeljagd mit Brautentführung.
Überraschung
Da war er plötzlich wieder. Hansen. Wie aus dem Nichts stand er auf einmal auf dem Gehweg, wohl in dem ungünstigsten Moment, den man für ein Wiedersehen wählen könnte. Aber das war nicht seine Schuld, sondern eher die meines überengagierten Chefredakteurs, der meinte, den Helden spielen zu müssen. Mein Chef hatte zusammen mit einem Griechen versucht, ein brennendes Motorrad zu löschen. Bei dem Versuch ist es auch geblieben, denn das Motorrad brannte immer noch, als meine Kollegin und ich dazu kamen. Dafür lagen der Grieche und mein Chef mit schweren Verbrennungen am Boden. Die alarmierte Rettung begann mit der Reanimation, und so kam es, dass ich Hansen wieder sah, während ich dem Rettungssanitäter bei der Beatmung assistierte. Die nachgeforderten Rettungskräfte übernahmen schließlich und ich stellte mich neben Hansen. Es war ein seltsames Gefühl, denn ich war unsicher, was ich sagen sollte. Darum standen wir schweigend da, schauten den Sanitätern bei der Arbeit zu und warteten. Irgendwann fingen wir an, zu reden. Wie selbstverständlich nahm ich Hansen mit, wie früher, als wir zusammen unterwegs waren. So ganz wie in alten Zeiten war es nicht, man konnte die Uhr nicht zurückdrehen.
Aber Hansen war wieder da, und darüber freute ich mich. Bei der AX-Media-Group anfangen wollte er nicht, Artikel schreiben war nicht sein Ding. Dafür fand er eine Stelle beim Bollwerk als Barkeeper.
Er kam nur selten in die Stadt, aber immerhin wusste ich nun, dass es ihm gut ging. Und das war die Hauptsache. Auch wenn man alten Erlebnissen nach trauert: Die Welt dreht sich weiter und sie wartet nicht auf dich.
Du kannst dich dagegen sträuben, oder du kannst lernen weiter zu leben und zu erleben.
Ich und Autos
Mein erstes Auto habe ich vom Kommandanten der Berufsrettung geschenkt bekommen. Einen Audi S3, wie mir eines Tages jemand erklärte. Theoretisch hätte ich auch selber darauf kommen können, schließlich stand hinten neben der Kofferraumklappe ein deutliches “S3” und das diese Ringe nebeneinander für “Audi” standen, hatte ich sogar schon einmal irgendwo gehört.
Aber wenn ich mich mit etwas nicht auskannte, dann waren es Autos. Als jemand versuchte, vor unseren Augen das Fahrzeug des Chefs, welches übrigens ein blauer Volvo war, zu stehlen, gab es zwei Augenzeugen, die den Fluchtwagen als VWvPolo identifizieren konnten – und mich. Ich schrieb “ein kleines, schwarzes, rundliches Auto” in meine Aussage.
Ein anderes Mal suchten wir einen dunklen Blister. Ich war mit einer Praktikantin unterwegs, die sich genauso wenig mit Autos auskannte wie ich. So wussten wir auch nicht wirklich, was für ein Fahrzeug wir eigentlich suchten. Nach einer guten halben Stunde fiel uns dann auf, dass wir selber ebenfalls in einem Blister saßen.
Doch zurück zu meinem Audi. Ich bin viel mit ihm herumgefahren. Doch nachdem ich eine Zeit lang nur kürzere Strecken zurücklegen musste und dafür das Fahrrad verwendete, bemerkte ich ein Problem: Die Typisierung war abgelaufen. Ein erfahrener Autokenner hätte vermutlich gesagt: “Kein Problem, ich fahre kurz zum ÖAMTC und hole mir eine Neue”. Ich war mit dem ganzen etwas überfordert. Darf ich überhaupt noch auf der Straße fahren bis zum ÖAMTC? Was, wenn die Polizei mich anhält und nach meiner Typisierung fragt? Oder wenn ich einen Unfall habe? Also rief ich den ÖAMTC und ließ mein Auto abschleppen. Hinterher erklärte mir ein Mitarbeiter, dass das eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Zudem gab es plötzlich Probleme mit meinem Kennzeichen. Das Fahrzeug hatte vorne keins, ich habe mich nie gefragt wieso, denn ich hatte es ja so geschenkt bekommen und damals so typisieren lassen. Aber das galt nun nicht mehr. Es musste vorne ein Kennzeichen angebracht werden, sonst gäbe es keine Typisierung. Ein bisschen tat es mir schon leid, das Original-Design vom Kommandanten zerstören zu lassen. Trotzdem half es nichts, ein Auto, das man nicht fahren kann, ist schließlich nutzlos. Das Kennzeichen wurde angeschraubt, ich bekam meine Zulassung und konnte weiter die Straßen Wiens unsicher machen, wobei ich wohl inoffiziell den STVO-konformsten Fahrstil aller Einwohner Wiens an den Tag legte, so wurde mir zumindest gesagt.
Hochs und Tiefs
Wer einen Schnellstart hinlegt, kommt schnell ins Stolpern. So auch die AX-Media Group. Nachdem wir staatlich registriert waren, besseren Lohn bekamen, Firmenfahrzeuge und neue Möglichkeiten, unsere Artikel zu veröffentlichen, ging es nicht mehr voran.
Kurzzeitig schwebten wir auf Wolke sieben, mit vier neuen Auszubildenden auf einen Schlag, von denen uns jedoch drei kurz darauf schon wieder verließen. Auch andere Mitarbeiter kündigten oder wurden entlassen, aus verschiedensten Gründen. Artikel schreiben, das war nicht jedermanns Sache. Mein Chef machte sich ernsthafte Sorgen um die Zukunft der Firma, ich versuchte positiv zu bleiben.
Das Journalistenleben hatte mich gepackt. Auch wenn ich weitaus schüchterner und zurückhaltender unterwegs war als mein Chef, hatte ich eine Seite an mir entdeckt, die ich vorher nie wahrgenommen hatte – war es doch immer mein einziger Traum gewesen, im Rettungsdienst Menschen zu helfen.
Die ersten Gespräche mit Exekutivbeamten, um an Informationen zu kommen, waren sehr ernüchternd. Wenn man nicht weggeschickt wurde, so bekam man meistens kein anderes Wort als “Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.” heraus. Es brauchte Zeit und viele Gespräche, um zu lernen, miteinander auszukommen. Hier nochmal ein Dankeschön an den Wiesbauer, der uns einmal für eine wirklich laaaange Diskussion seine Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hatte.
Es herrschten viele Vorurteile, aber auch berechtigte Kritik, eine grundlegende Skepsis und vermutlich auch viel Unsicherheit gegenüber der jeweils anderen Partei. Ich konnte es verstehen, wir waren neu, wir bedeuteten Stress, wir verursachten Arbeit. Nach der anfänglichen Phase des gegenseitigen “Anknurrens” schafften wir es, einige Probleme abzubauen.
Und so kam es zu meiner ersten Pressekonferenz, an der ich teilnahm. Ich war aufgeregt, fragte noch die anderen, ob wir uns vorher nicht ein paar Fragen überlegen wollten, aber dann standen wir auch schon vor der Tür und wurden eingelassen. Das erste Mal im Presseraum der LPD Wien.
Ehrlich gesagt, so besonders ist der Raum nicht. Einige Stühle, vorne auf einer Bühne das Rednerpult mit Mikrofon, im Hintergrund riesen groß das Logo der Polizei. Doch es ging ja auch nicht um den Raum, sondern die Tatsache, dass wir im direkten Austausch standen, Informationen nicht nur vorgesetzt bekamen, sondern auch nachfragen konnten. Das sich jemand Zeit für uns nahm.
Es blieb nicht bei dieser einen Konferenz. Es folgten noch viele weitere. Manchmal fragten wir speziell zu einem Fall nach, manchmal wurde auch einfach öffentlich angekündigt, dass eine Pressekonferenz stattfand und nicht selten hatten wir gar nichts von dem Ereignis mitbekommen, von dem sie dann dort erzählten. Sogar einige andere Bürger Wiens interessierten sich plötzlich für die Pressekonferenzen. Was ich leider an dem Tag bemerkte, als ich ausnahmsweise zu spät zum Termin kam.
Eine Kollegin, ich nenne sie die “Lilie”, saß bereit drinnen, ich fragte sie über Funk, ob sie jemanden bitten könnte, die Tür für mich aufzumachen.
Mir wurde geöffnet, ich ging den bekannten Weg durch den kurzen Flur, öffnete die Tür: Statt wie erwartet nur meine Kollegin dort sitzen zu sehen, war der Raum voller Menschen. Gut, es waren noch einige Stühle frei, doch allein die Tatsache, dass jemand anderes als die AX Media Group anwesend war, überraschte mich. Die Lilie war sogar so lieb, darum zu bitten, den Anfang nochmal zu wiederholen, den ich verpasst hatte, sodass ich nicht fragen musste.
Das plötzliche Interesse an den Pressekonferenzen in der Zivilbevölkerung überraschte mich positiv. Es war ein weiterer Schritt zu mehr Kommunikation und mehr Reden bedeutete ein besseres Zusammenleben in Wien.
Die große Frage Liebe
Neben den eher plumpen Flirtversuchen mancher Bürger Wiens gab es auch taktvollere Versuche, eine Beziehung mit mir aufzubauen.
Ich lernte den Verehrer bereits zu Beginn meiner Arbeit als Redakteurin kennen, indem ich ihn fragte, ob er sich selber kenne. Natürlich nicht wortwörtlich. Ich fragte, ob er einen gewissen Herrn soundso kenne. Er sagte ja, drehte sich um, ging ein paar Schritte, kam zurück und meinte: “Guten Tag, ich bin Herr soundso, wie kann ich Ihnen helfen?”
Damals schenkte er mir eine kleine Topfpflanze, die nun in meinem alten Campingwagen aufgrund mysteriöser Trockenperioden regelmäßig ums Überleben kämpft.
Wir hatten lange keinen Kontakt mehr miteinander, außer hie und da mal bei einem Einsatz, da er bei der Berufsfeuerwehr arbeitete. Aber dann liefen wir uns wieder über den Weg, und er schrieb mir kleine romantische Nachrichten, die nah an der Grenze zum kitschigen schrammten. Aber ich mag “kitschig”.
Trotzdem war ich mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Hatte ich Lust, ihn näher kennenzulernen? Wollte ich mich auf dieses Risiko überhaupt einlassen? Was war mit Hansen? Der hatte zwar nie Andeutungen in diese Richtung gemacht, dennoch konnte ich mir vorstellen, dass aus uns mehr geworden wäre, hätte er gefragt.
Was wollte ich eigentlich? Beruflich stand ich fest im Leben. Doch was war mit all dem anderen? Mit Liebe und Familie?
In Wien Mitte schenkte mir der Verehrer aus dem Nichts eine Rose – ohne groß etwas dazu zu sagen. Darum blieb ich auch einfach stumm.
Ein anderes Mal überreichte er mir einen Brief mit Chilischoten. Ich nahm an, dass es symbolisch so etwas wie “Du bist scharf” bedeuten sollte.
Bei keinem anderen Thema war ich so überfordert mit dem, was ich sagen und wie ich mich verhalten sollte, wie bei dem Thema Liebe. Irgendwann verlief sich die Geschichtte mit dem Verehrer im Sand. Ich war froh darüber, so blieb es mir erspart, ihn mit einem Korb verletzen zu müssen, hätte er mich konkret gefragt. Ohne Frage war er ein sympathischer Kerl. Aber mehr konnte und wollte ich nicht in ihm sehen.
Die Stimme des Gewissens
Angst. Ja, ich hatte Angst. Wie konnte es nur so eskalieren? Wo fange ich an?
Einer unserer Mitarbeiter wurde entlassen, da er geheime Informationen weitergegeben hatte. Mein Chef war sauer. Sehr, sehr sauer. Denn anscheinend konnten diese Informationen uns in ernsthafte Gefahr bringen.
Ich glaubte, mit der Kündigung sei alles geklärt. Privat hielt ich noch Kontakt mit dem Exmitarbeiter, denn ich hoffte, ihm ein wenig aus dem Schlamassel heraus helfen zu können, in den er geraten war. Und das war durchaus kompliziert.
Doch es blieb nicht dabei. Manche Funksprüche meines Chefs klangen seltsam. Ob ich nicht Lust hätte, dem Exmitarbeiter die Bremsschläuche durchzuschneiden. Ich nahm es als einen Scherz auf, wollte es nicht anders wahrnehmen, überhörte die Sprüche.
Bis zu dem einen Tag im Herbst. Ich war kurz von Wien Mitte aus zum AKH gefahren, der Kommandant schulte einen neuen Praktikanten ein und brauchte die Schlüssel zum alten Zivibomber, die ich noch bei mir hatte. Der Kommandant brachte mich gerade zurück nach Wien Mitte, da traf auch mein Chef ein. Er ging schnurstracks zu einer Polizeistreife.
In dem Moment rief mich besagter Exmitarbeiter an.
“Er hat mich angefahren und von der Straße in den Kanal gedrängt. Ich glaube, er wollte mich umbringen.”, erzählte er aufgeregt. Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es um meinen Chef ging.
Was tun? Ich wusste es nicht. Die Information erschien mir so ungeheuerlich, so entsetzlich. Konnte das sein? Mein Chef – natürlich, er war manchmal etwas aufbrausend – aber ein versuchter Mord?
Er war in der letzten Zeit generell etwas seltsam. Mal gut gelaunt mit einem Kinderlied auf den Lippen, mal tief deprimiert, weil es mit der Firma nicht so lief, wie geplant. Betrunken rief er mich an, er sei “Sterne anschauen” und dann hörte ich nur, wie er “Au” schrie und rief, er falle den Berg herunter. Sterne – das klang nach dem Observatorium und kaum stieg ich ins Auto auf dem Weg dorthin, ploppte eine automatische Hilfe-SMS auf meinem Handy auf mit eben jenem Ort. Anscheinend hatte mein Chef auch noch andere Notfallkontakte in seinem Smartphone hinterlegt, denn oben auf dem Parkplatz angekommen traf ich auf den Piloten. Ich kannte ihn von einigen Rundflügen zusammen mit der Lilie und wusste, dass auch mein Chef einen ganz guten Draht zu ihm hatte.
Gemeinsam starteten wir die Suche. Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr hatte ich bereits alarmiert. Der Pilot entdeckte den Chef in einer Schlucht unterhalb des Observatoriums. Soweit durch das Fernglas erkennbar, bewegte er sich noch leicht.
Die Rettung gestaltete sich schwierig, der Sanitäter musste mit einem Hubschrauber abgeseilt werden.
Zum Glück erholte sich mein Chef recht schnell von dem Unfall. Aber dann kam eben die Sache mit dem angefahrenen Motorrad.
Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, doch mein erster Gedanke war es, mehr Informationen zu bekommen, um sicher zu sein. Darum lief ich ebenfalls zu der Streifenpolizistin und bekam einen Teil des Gespräches mit. Mein Chef erzählte etwas davon, dass ein Motorradfahrer sehr rücksichtslos unterwegs sei und sein Auto geschrammt hatte, er den Fahrer aber nicht erkennen konnte und der weitergefahren sei. Er wolle Anzeige gegen Unbekannt erstatten.
Ich fragte ihn später noch einmal, ob sich dabei jemand verletzt hätte. Mein Chef meinte nein, der sei ja davongefahren und er könne ja nicht jedem Motorrad in Wien hinterher fahren. Sein Tonfall machte mich stutzig. Er klang anders als sonst. Ähnlich pampig, wie wenn die Polizei ihn von einer Einsatzstelle wegschicken wollte. Aber da war noch so ein merkwürdiger Anteil, als wolle er sich verteidigen.
Innerlich erschauerte ich. War es wahr? Mir fielen die Sprüche wieder ein. Und der Exmitarbeiter war sich sehr sicher, meinen Chef erkannt zu haben und auch wenn er zuvor Fehler gemacht hatte: In dem Fall würde er nicht lügen.
–
Meine Befürchtungen erhärteten sich, als mein Chef mich fragte, ob jemand Leitendes einer gewissen kriminellen Organisation erreichbar wäre. “Ich muss nämlich noch eine Rechnung abschließen.” Was für eine Rechnung? Es würde wohl kaum um einen Artikel gehen.
Ein Kampf tobte in mir. Ein Teil wollte das alles nicht glauben, einfach ignorieren und weitermachen. Ein Teil war entsetzt, dass mein Chef zu so etwas fähig zu sein schien. Der wohl größte Teil in mir wollte nicht Schuld am eventuellen Tod eines Menschen sein. Und dann war da noch ein Teil, der Angst hatte, die Wut seines Chefs auf sich zu ziehen, sollte davon etwas ans Licht kommen.
In meiner Not suchte ich Hilfe beim alten Hasen – bei wem sonst. Um den hellhörigen Ohren meines Chefs zu entgehen, fuhren wir ziellos durch die Stadt und unterhielten uns währenddessen im Auto. Ich erzählte ihm die ganze Misere, angefangen mit dem Datenleak durch den Ex-Mitarbeiter bis hin zu der merkwürdigen Aussage meines Chefs.
Zunächst hörte der alte Hase geduldig zu – eine Eigenschaft, die ich sehr an ihm schätze. Dann stimmte er mir zu, dass das eine sehr schwierige Situation sei und dachte nach. Gemeinsam gingen wir die Möglichkeiten durch. Was war am Besten? Was war am sichersten? Schließlich war klar: Wir mussten der Polizei Bescheid sagen.
Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend fuhren wir zum SPK1. Über Funk wusste ich, dass mein Chef gerade in den Bergen wanderte. Trotzdem schaute ich immer wieder nervös durch die große Glastür des Stadtpolizeikommandos, durch die mich jeder von draußen sehen konnte. Ich hatte Angst, dass mein Chef jeden Moment vorbeikommen könnte. Er würde mich hier sitzen sehen und sofort eins und eins zusammenzählen können. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte schließlich ein Polizist auf. Gemeinsam mit dem alten Hasen als emotionale Unterstützung an meiner Seite erzählte ich kurz, was das Problem war. Der Polizist nickte knapp, dann holte er das Landeskriminalamt dazu. Drei Beamte standen vor mir und ich musste das ganze noch einmal ausführlich von vorne erzählen.
Man sagte mir, ich solle mir nichts anmerken lassen und mich so weiter verhalten wie bisher, man kümmere sich darum. Dann konnten wir wieder gehen.
Die Erleichterung darüber, nicht geschwiegen zu haben, wurde jedoch von der Sorge, mein Chef könnte das herausfinden, überschattet. Wir trafen bei Wien Mitte auf ihn. Er fragte, was wir gemacht hätten. Zum Glück hatten sich der alte Hase und ich uns schon auf eine Geschichte für diese Frage geeinigt. Ich spielte, als wäre nichts, als wäre alles ganz normal. Ich spielte um mein Leben.
Später am Abend kam die Polizei vorbei. Voll ausgerüstet mit Langwaffen und schusssicheren Westen. Sie seien im Kampf gegen Straßenkriminalität unterwegs, erklärten sie und nahmen meinen Chef für ein Gespräch mit. Mir rutschte das Herz in die Hose. Soviel zum Thema “unauffällig”.
Der alte Hase versuchte mich zu beruhigen. Und so machte ich einfach weiter. Ruhig bleiben. Weiteratmen, weiterleben. Ein bisschen kamen mir die Beruhigungsübungen zugute, die ich in den Therapiestunden gegen meine Feuerphobie gelernt hatte. Trotzdem war mir alles andere als entspannt zumute. Zumal mich mein Chef kurz darauf ansprach, ob ich wisse, was die gewollt haben. Und dann fragte er in einem Cafe einen Mann, ob ihr Telefongespräch auch sicher niemand gehört habe. Da wusste ich es sicher: mein Chef hatte einen Mord in Auftrag gegeben. Denn dieser Mann gehörte zu jener kriminellen Gruppe, mit der mein Chef noch eine “Rechnung” offen hatte. Er gehörte zu den schwarzen Hyänen.
Vertrauen
In meinem Kopf spielten sich verschiedene Szenarien ab. Mein Chef vermutete etwas und er war sicher schon längst auf der Suche nach Beweisen für seine Ahnung.
Sobald er sich sicher genug war, würde er mich vermutlich auch ausschalten wollen. Er war so paranoid geworden, dass man ihn verraten habe und unterwerfen wolle.
Der alte Hase wusste von meiner Befürchtung, ich hatte ihn ja ungefragt mit in die ganze Sache hineingezogen. Er meinte, er regelt das und dass auch er gute Kontakte zu vielen Leuten hier in Wien habe.
Also blieb mir nur abzuwarten und zu hoffen, dass sein Wort mehr zählte als das meines Chefs. Wem würde man eher glauben? Ich wusste, dass mein Chef sehr überzeugend sein konnte. Er war wortgewandt, kannte sich rechtlich aus und wusste, wie man schauspielerisch die Leute um den Finger wickeln konnte.
Aber das konnte ich auch. Seit meiner Ankunft hier in Wien hatte ich mich stets bemüht, mit keinem in Streit zu geraten. Für die meisten war ich wohl die liebe brave Rebekka, unauffällig, ungefährlich. Oberflächlich betrachtet kam ich mit allen ganz gut zurecht – aber reichte diese Höflichkeitssympathie um bei entsprechender Summe „Nein“ zu sagen? Würden sich die Kontakte und zum Teil ja auch Freunde meines Chefs im Fall der Fälle auf meine Seite schlagen? Selbst wenn, irgendwen würde er sicher finden, der käuflich war.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich musste stark mit mir kämpfen, um nicht den Verstand zu verlieren.
Vielleicht war ja alles nur halb so schlimm. Vielleicht hatte ich ihn nur falsch verstanden, das ganze könnte aufgelöst werden, niemand wäre in Gefahr – wir trinken Kaffee im Büro und mein Chef beschwert sich über die Pol, während der eine Mitarbeiter über seine Geldprobleme jammert und die Lilie von der letzten Bollwerkparty erzählt. Alles wäre wie immer.
Man kann sich vieles selbst einreden. Aber es gibt Grenzen. An eine heile Welt konnte ich schon lange nicht mehr glauben, zumal mir mein Chef auch erzählt hatte, er habe eine Waffe gekauft – natürlich bloß “zur Selbstverteidigung”.
Mir blieb nur, auf die Polizei und die Kontakte des alten Hasens zu vertrauen.
Auf die Arbeit konnte ich mich kaum noch konzentrieren. Ich war zwar anwesend, stand bei Wien Mitte herum, sollte sich ein spannendes Ereignis ergeben, doch innerlich hoffte ich nur, dass die Zeit verging. Die Anwesenheit meines Chefs machte mich nervös – innerlich, äußerlich spielte ich die ganz normale Rebekka Scharfenstein, die sich um das Wohlergehen der gesamten Menschheit sorgte. Aber wie gut gelang mir das? Merkte er es mir an? Ich fühlte mich mies, ihn so dreist zu belügen. Hatte ich überreagiert? Vielleicht sollte es doch nur ein blöder Witz sein und der Exmitarbeiter hatte sich einfach geirrt?
Immer wenn die Mitglieder der schwarzen Hyänen auftauchten, bekam ich Angst. Auf wen würden sie hören, alter Hase oder Chef? Eigentlich waren mir die Leute an sich sehr sympathisch und ich hütete mich davor, ihnen gegenüber meine Angst zu zeigen. Das wäre zu verdächtig. Dennoch war sie da, hielt mich vom schreiben ab, klebte mich bei Wien Mitte fest, denn dort waren viele Menschen und einen Mord würde man wohl eher in einer abgelegenen Seitenstraße ausführen, als in einer Menschenansammlung. Wann würde es wieder Normalität geben? Allmählich befürchtete ich, verrückt zu werden. Ein Einsatz außerhalb Wiens und die Hyänen waren beteiligt? Ich sendete einen Livestandort an den alten Hasen, für alle Fälle. Sicherlich hielt er mich inzwischen auch schon für übersensibel und krankhaft misstrauisch. Wie sollte es weitergehen?
Die Welt dreht sich sowieso
Der Sonnenaufgang weilte nur kurz, denn Nebel füllte die Hochhausschluchten. Ich stand im Büro am Fenster und starrte nachdenklich nach draußen. Es sah trist aus – nicht nur draußen, auch für die AX Media Group.
Mein Chef hatte schon längst die Hoffnung verloren. Ob ihm seine Position zu Kopf gestiegen war? Ein weiterer Kollege kündigte. Aber mein Chef bestand darauf, ihn zuerst zu entlassen. Damit es auch ja von seiner Seite ausginge. Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Musste man denn immer zeigen, dass man der Stärkere war?
Kurz darauf die nächste Kündigung. Die hing zwar nicht mit den anderen zusammen und war einvernehmlich – doch das trug nicht unbedingt zur Entspannung der Situation bei. Wir mussten neue Schritte gehen. Eine Korrektur weniger, um überhaupt noch Artikel veröffentlichen zu können. Mein Chef haderte lange damit, bei der Qualität Abstriche machen zu müssen, doch ihm blieb keine Wahl. Er begann, Fahrrad zu fahren, zur Entspannung. Ich war froh, denn das war definitiv gesünder als Alkohol. Verwirrend, denn obwohl ich wusste, dass mein Chef ein potentieller Mörder war, mochte ich ihn trotzdem und wollte, dass es ihm gut ging.
Er verhielt sich so normal, scherzte wie immer, redete wie immer. Ich begann an mir selbst zu zweifeln. Hatte ich überreagiert? Natürlich mochte mein Chef den Exmitarbeiter nicht, aber Mord?
Ich fragte ihn danach, ob er immer noch so sauer auf denjenigen sei. Seine Antwort: „Ich fände es nicht schlimm, wenn sich die Welt für ihn gar nicht mehr dreht. Den wird sicher niemand vermissen.“
Das war eine Meinung, aber doch noch lange keine Drohung. Aber der alte Hase meinte, das sei ja nur logisch. Schließlich hatte die Polizei vor kurzem nachgefragt. Da musste er misstrauisch und vorsichtiger geworden sein. Aber das LKA ermittelte und irgendwann würden sie schon etwas finden. Ich hoffte, dass es bald geschah. Wenn dem so war, dann wollte ich es schwarz auf weiß. Keine dauerhaften Sorgen, kein Misstrauen im Hinterkopf, kein Heile-Welt mehr spielen.
Doch wie sollte man ihn überführen? Auch wenn er einen Auftrag getätigt haben sollte – die schwarzen Hyänen würden dicht halten. Der einzige Schwachpunkt war mein Chef selbst und der würde sich wohl kaum selbst verraten.
Eigentlich lächerlich, dass ich mir so viele Sorgen um mich selbst machte. Der Exmitarbeiter war schließlich das Ziel. Ihn wollte mein Chef loswerden, nicht mich.
Nebenbei lief das Leben wie gewohnt weiter. Ich lernte eine junge Dame bei Wien Mitte kennen, ihrem Wesen nach werde ich sie, in freundschaftlicher Art, Xanthippe nennen. Für alle, die entweder Bildung oder Google besitzen, möchte ich hinzufügen, dass sie sich wohl in den Kopf gesetzt hatte, den alten Hasen zu ihrem nächsten Sokrates zu machen.
Wir unterhielten uns über einen gemeinsamen alten Bekannten, den Geschäftsmann, mit dem Xanthippe ähnliche Erfahrungen gemacht hatte wie ich. Nur dass es bei ihr etwas weiter ging, und sie eine Zeit lang mit dem Geschäftsmann zusammen gewesen war. Mein Chef war ebenfalls dort und da Xanthippe nicht sicher war, wie es für sie beruflich weitergehen sollte, widmete er sich einer ausführlichen Berufsberatung. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, das Gerede plätscherte so friedlich dahin. Kaum zu glauben, dass dieser Chef, der gerade so lieb und freundlich plauderte, so finstere Pläne haben könnte.
Bürgerkrieg
Gut, vielleicht ist dieses Wort etwas übertrieben. Dennoch, für kurze Zeit hatte man das Gefühl, eher in Syrien zu leben als in Wien.
Es begann recht harmlos mit einer Gruppe Menschen bei Wien Mitte, die alle dieselben grauen Arbeitsklamotten trugen. Wobei – nein – es begann eigentlich schon am Tag zuvor. Im Rettungsdienst herrschte eine gewisse Unruhe. Man solle sich für einen möglichen, größeren Einsatz vorbereiten.
Ich startete den Tag jedoch im Dienste des Journalismus, sollte es eskalieren, so konnte man mich schließlich immer noch nachfordern. Außer mir waren noch mein Chef und die Lilie da, wobei die Lilie zusammen mit der Katze und dem alten Hasen in dessen schwarzem Mercedes unterwegs war. Die Katze war eine Freundin von der Lilie und bei einem Campingausflug erzählte sie beim Spiel Wahrheit oder Pflicht, dass, wenn sie ein Tier wäre, sie eine Katze sein wollen würde.
Warum die Stimmung angespannt war, entdeckte ich vor dem SPK 1. Eine unzählige Ansammlung an Polizeifahrzeugen blockierte die Zufahrtswege, eine Libelle kreiste in der Luft und nach einer Weile war auch der Grund für das ganze erkennbar: drei riesenhafte, gepanzerte LKWs machten sich behäbig auf den Weg. Ich machte ein paar Bilder und fuhr Richtung Mödling, denn ich vermutete, dass der Konvoi dort als nächstes auftauchen würde. Ich irrte mich, doch die anonymen Informationen der Bürger brachten unser Team schon bald wieder auf die richtige Spur nach Wiener Neustadt. Eine ganze Weile folgten wir dem Konvoi, wann immer er anhielt, machten auch wir kurz Rast, um einige Bilder zu machen und schlussendlich herauszufinden, wohin der Tross eigentlich unterwegs war.
Man merkte ein wenig, dass die Polizei nicht gerade begeistert von unserem Vorhaben war, doch was sollte man ihr vorwerfen, wir stellten schließlich ein erhöhtes Sicherheitsrisiko dar. Das letzte Fahrzeug des Konvois bremste uns auf der Autobahn bewusst aus, sodass wir im Industrieviertel Wiens die Sicht verloren. Also lautete das Kommando ausschwärmen und Ausschau halten.
Wir hatten Erfolg und fanden den Zug in der Nähe des Flughafens wieder. Dann lief plötzlich alles sehr schnell und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an alles richtig erinnere.
Zwei Hummer überholten mich, da beschlich mich bereits ein ungutes Gefühl. Vor dem Flughafen befindet sich eine Art riesiger Kreisverkehr, es ist nicht wirklich einer, aber es ist eben eine runde Strecke, auf der man theoretisch ewig im Kreis fahren könnte. Plötzlich fielen vor mir Schüsse, ich trat sofort auf die Bremse. Der Kreisverkehr ist zwar offiziell eine Einbahnstraße, aber ich bin sicher, keiner wird es einem übel nehmen, wenn man falsch herum fährt, um sich vor einem Schusswechsel in Sicherheit zu bringen. Doch gerade als ich den Rückwärtsgang einlegen wollte, ertönten auch hinter mir Schüsse. Über Funk bekam ich mit, dass es meinem Chef und den anderen im Mercedes ähnlich ging. Sie wollten dorthin fahren, ein Polizist rief: “Nicht da hin, weg da!”. Sie wollten in die andere Richtung: “Halt, nicht da lang!” Also taten wir das einzige, das uns noch blieb: Wir verharrten an Ort und Stelle, auch um den ständig im Kreisverkehr vorbei rasenden Polizeiautos nicht in den Weg zu kommen. Mich traf es da noch recht günstig: Ich schaffte es, von der Straße zurückzusetzen, mich halb hinter einer Hauswand zu parken und dort, so tief es ging, in den Fußraum zu ducken. Ich bekam noch mit, dass kurzzeitig ein Motorrad hinter mir parkte, ich vermutete, dass es zu den Angreifern auf den Konvoi gehörte, doch zum Glück ließ mich der Fahrer in Ruhe und verschwand bald wieder.
Meine Kollegen waren vollkommen deckungslos auf einem Grünstreifen zwischen den Straßen zum Stehen gekommen. Die arme Katze war zum ersten Mal mit uns unterwegs und wird wohl den Schock ihres Lebens bekommen haben – wir jedoch auch.
Irgendwann verstummten die Schüsse und sämtliche Polizeifahrzeuge waren plötzlich verschwunden. Wir machten uns auch aus dem Staub, nur weg von dort, war unser Gedanke.
Doch auf einer Brücke in der Nähe lag jemand neben seinem Auto mitten auf der Straße. Er trug graue Arbeitskleidung und hatte Schussverletzungen. Sicherlich war er bei dem Angriff dabei gewesen. Doch Mensch ist Mensch und als Notfallsanitäterin war es meine Aufgabe, jedem zu helfen. Ich versuchte die Rettung zu erreichen – landete jedoch in der Warteschleife. Natürlich, unten am Flughafen hatte gerade die Schießerei des Jahrhunderts stattgefunden und sicherlich liefen die Leitstellentelefone gerade heiß.
Ich zerrte den Mann auf den Bürgersteig und begann, notdürftig die Blutungen zu stoppen. Ein Fahrzeug hielt neben mir an. Jemand rief: “Die werden von der Rettung gerade keine freien Mittel haben, unten am Flughafen ist Sammelplatz für den MANV, bringen Sie ihn dorthin.” Dann war das Auto schon wieder weitergefahren. Ich vermutete, dass darin ein Zivilpolizist gewesen war.
Da meine Kollegen schon wieder am anderen Ende der Stadt waren, hievte ich den Mann alleine in den hinteren Teil des AX-Media Vans. Dort befand sich das Equipment für eventuelle Liveberichtserstattungen, und wenn man den Stuhl zur Seite räumte, war, neben dem Tisch mit Computern, auf dem Boden genügend Platz, einen ausgewachsenen Menschen in der stabilen Seitenlage zu transportieren.
Mit eingeschalteter Warnblinklichtanlage fuhr ich zurück zu dem Ort, an dem vor fünf Minuten noch gefühlsmäßig der dritte Weltkrieg geherrscht hatte.
Der Kommandant der Berufsrettung höchstpersönlich war vor Ort, ein Bit stand am Rand geparkt. Ich lud meinen Patienten aus und schnappte ein paar Sachen aus dem Notfallrucksack eines Kollegens.
Die ganze Behandlung der Verletzten aufzuzählen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Was mich jedoch tief erschütterte, war folgendes: Da lag ein Mann, der Kleidung nach zu urteilen, ein Mitarbeiter einer Geldtransportfirma. Unter Schmerzen stöhnte er, ob die Entführer weg seien. Keine drei Meter neben ihm zog ein Sanitäter gerade die Maske vom Gesicht eines Täters, sodass dieser besser atmen konnte. Vom eben noch dagewesenen Blaulichtmeer der Polizei war nichts mehr zu sehen. Später erzählte der Kommandant, dass nur kurz zwei Streifen vor Ort geblieben waren und dann verschwunden seien.
Da liegt man mit Schussverletzungen, schwer traumatisiert, da man gerade als Geisel genommen wurde, blutend auf dem Asphalt – und neben dir der Mann, der dich mit einer Waffe bedroht, in ein Fahrzeug gezerrt und mitten in einen Kugelhagel gebracht hat. Ohne Handschellen, ohne Polizisten, die dich vor ihm schützen würden. Wie ist so etwas in einem modernen Land wie Österreich nur möglich?
Es klingt vielleicht seltsam, aber es war ein Glücksfall für den Rettungsdienst, dass die Personen so schwer verletzt waren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre einer der Täter noch in der Lage gewesen, erneut zu seiner Waffe zu greifen.
Natürlich zog das ganze ein Nachspiel nach sich und ich bin sicher, dass der Fall polizeiintern kritisch aufgearbeitet wurde. Zudem kümmerte sich mein Chef um einige Interviews mit den zuständigen Personen. Dennoch, das Image der Polizei erhielt an diesem Tag einen erheblichen Knacks.
Die Täter waren auf alle Fälle wütend auf die Polizei, die sie einfach niedergeschossen hatte, trotz der Geiseln an Bord. So sollte die Aktion bei Wien Mitte sicherlich ihre Art der Rache sein. Die gleich gekleideten Personen begannen, sich Masken aufzuziehen und liefen dann zu einem Polizeiauto, das in der Nähe parkte. Ein Mann hatte einen Benzinkanister dabei und begann, dessen Inhalt über das Fahrzeug zu gießen. Wir, mein Chef, die Lilie, die Katze und ich beobachteten das Ganze von Weitem. Ich glaube, hätte ich in dem Auto gesessen, wäre ich vor Angst und Panik gestorben.
Schon bald näherte sich die Verstärkung für den einzelnen Polizisten im Funkwagen. Kurz zogen sich die Grauen, wie ich sie in Gedanken nannte, zurück. Doch dann eskalierte die Situation. Ich bekam nicht alles mit. Die Exekutive war plötzlich mit ihrem gepanzerten Survivor vor Ort und rammte ein eigenes Polizeiauto, das von den Grauen gerade gestohlen wurde. Schließlich fielen Schüsse.
Wir brachten uns in Sicherheit, einige rannten in den Billa bei Wien Mitte, andere gingen hinter einer kleinen Mauer in Deckung.
Die Schüsse verstummten für einen Moment, doch gerade als wir aufatmen wollten, ging es erneut los. Erst nachdem für längere Zeit Stille eingekehrt war, trauten wir uns zum Parkplatz, dem Hauptort des Massakers.
Dieses Mal machte die Polizei ihren Job großartig. Einige vermummte Spezialkräfte sicherten den Platz ab. Mehrere Beamte holten ihre Notfallrucksäcke aus den Autos und verteilten diese an die Ersthelfer. Denn es gab viele Zivilisten mit einer unglaublichen Zivilcourage. Die meisten hatten zumindest noch genügend Erste-Hilfe-Wissen von längst vergangenen Führerscheinkursen, dass sie eine ganz passable Reanimation durchführen konnten. Auch wenn ich nicht im Dienst war, als Notfallsanitäterin hatte ich in dem Moment wohl den höchsten medizinischen Ausbildungsgrad vor Ort. Ich lief von Patient zu Patient, stopfte dort Verbandsmaterial in die Bauchschusswunde, legte hier einen Guedeltubus und klebte dort ein paar Defibrillationspads auf den Oberkörper und erklärte einem Zivilisten, die Atmung eines Bewusstlosen im Blick zu behalten. Als die Rettung endlich eintraf, hatte ich einen ganz guten Überblick: Wer war in der Triagekategorie Rot, wer konnte länger warten, für wen war es vermutlich schon zu spät? Rasch konnte der MANV abgearbeitet werden, auch dank der vielen Ersthelfer und der ebenfalls alarmierten Feuerwehr, die bei den Reanimationen unterstützte.
Es war ein Moment, in dem das Gehirn einfach nur noch funktionierte und die gesamten Algorithmen abspielte, die ich in meiner Ausbildung gelernt hatte. ABCDE, kritisch, nicht kritisch, und vieles mehr. Obwohl es stressig war, fühlte ich mich in dem Moment gut. Ich hatte den Eindruck, hier genau richtig am Platz zu sein. Dafür hatte ich meine Ausbildung gemacht, dafür hatte ich geübt, jetzt galt es, jetzt konnte ich mich beweisen.
Danach war eine Weile Ruhe. Bis zu der erschütternden Alarmierung: MANV im gesamten Gebiet. Der Disponent war wohl ziemlich überfordert, wusste nicht ganz, was er schreiben sollte, Hauptsache irgendetwas, um weitere Kräfte nachzufordern. Also fuhr ich zum zweiten Mal zum AKH, wechselte in die blau-rote Uniform, schnappte den RTW-Schlüssel und meldete mich im Funk. Dort wurde die Situation nun klarer geschildert. Die Einsatzstelle befand sich in der Nähe der Lederhos’n Bar in Mödling. Den Bereitstellungsraum, den wir uns im Übrigen selbst suchen mussten, errichteten wir neben der Justizanstalt, halb verdeckt hinter dem Empfangsgebäude. Die Feuerwehr war ebenfalls mit von der Partie, baute einen Pavillon gegen den strömenden Regen auf und organisierte die Einsatzleitung. Die Position hinter den Mauern in Deckung war wohlweislich gewählt, denn es fielen immer wieder Schüsse. Diese hatten auch dafür gesorgt, dass wir keine Vorgaben der Polizei erhalten hatten. Anscheinend waren alle eingesetzten Exekutivbeamten verletzt irgendwo in diesem Schlachtfeld.
Es dauerte lange, bis nachgeforderte Kräfte aus Wien ankamen, ausgerüstet mit dem Survivor. Damit fuhren sie mitten zwischen die fliegenden Kugeln, sammelten einen Patienten ein, kamen zurück und warfen ihn wortwörtlich vor unsere Füße, bevor sie wieder Richtung Schüsse rasten.
Ich kümmerte mich um den ersten Verletzten, die übrigen rückten mit ihren Einsatzfahrzeugen weiter vor, auf der Suche nach weiteren Opfern des Schusswechsels. Für viele kam unsere Hilfe leider zu spät. Zu lange konnten wir nicht handeln, zu lange wurde keine erste Hilfe geleistet. Ich fragte mich, warum man so etwas tat. Selbst wenn die Täter wütend auf die Polizei waren, sei es wegen dem vereitelten Anschlag auf den Konvoi oder wegen allgemeiner Unzufriedenheit, warum konnte man nach verübter Racheaktion nicht Ruhe geben? Warum musste man ein zweites Mal zuschlagen, und warum konnte man nicht einfach flüchten und den Rettungsdienst in Ruhe arbeiten lassen, um Leben zu retten? Schon lange hatte ich mich nicht mehr so hilflos gefühlt.
Kannst du dir nicht ausdenken
Endlich gab es Neuigkeiten im Fall Mordauftrag durch meinen Chef. Allerdings nicht von der Polizei und nicht so, wie ich erwartet hätte. Denn tatsächlich handelte es sich wohl um ein riesengroßes Missverständnis, hervorgerufen durch das denkbar schlechteste Timing der Welt.
Wir, das heißt mein Chef und ich, kamen eher zufällig darauf. Wie auch sonst, freiwillig hätte ich das Thema niemals angesprochen. Wer erzählt schon seinem Chef nebenbei, dass er ihn wegen Mordverdachts bei der Polizei gemeldet hatte?
Es ging um die Rechnung, die er “noch abschließen musste”, mit den schwarzen Hyänen. Mein Chef erwähnte, dass es sich dabei um einen uralten, gesponserten Artikel handelte, der zwar in Auftrag gegeben und geliefert worden war, jedoch nie von der betroffenen Partei bezahlt wurde. Im ersten Moment wollte ich es nicht glauben, also schaute ich selbst im Archiv nach. Tatsächlich, ganz weit hinten, völlig unscheinbar, stand es schwarz auf weiß. Der gesponserte Artikel war eingetragen. Und ich hatte nichts davon gewusst. Was wusste ich noch nicht? Das Telefonat. Ich fragte meinen Chef danach. Es sei um anonyme Hinweise auf eine neue Story gegangen, erklärte er. Worum es genau ging, wollte er nicht sagen, aber das war nicht ungewöhnlich. Anonyme Tippgeber behandelte mein Chef immer höchst diskret.
Die Zweifel, die mich die letzten Tage so verunsichert hatten, schienen sich tatsächlich zu bestätigen. War mein Chef doch unschuldig? Das ganze Kartenhauskonstrukt an Vermutungen, halbbelegten Beweisen und logischen Rückschlüssen fiel immer weiter zusammen.
Ich wollte die Ungewissheit nicht länger tragen, und so fragte ich, trotz des möglichen Risikos, gerade heraus: “Und was war mit dem Unfall und dem Motorrad? Der Exmitarbeiter hat mich angerufen, ich weiß, dass du ihn gerammt hast.” Mein Chef wirkte überrascht, jedoch nicht ertappt. “Mensch Rebekka, das war ein Unfall! Ja, ich habe ihn ausversehen geschrammt, aber er ist direkt davon gefahren und ich hatte da noch nicht einmal erkannt, dass er es gewesen war mit dem dunklen Helmvisier.”
Für einen kurzen Moment war ich wie erstarrt. Konnte das wirklich sein? Konnte ich mich wirklich so geirrt haben? Es hatte alles so logisch gepasst. Das Motiv, der Unfall, der Versuch, diesen zu vertuschen, die Rechnung, das geheime Telefonat. Waren das alles harmlose Zufälle?
Es half nichts, ich musste meinen Chef direkt fragen, denn diese Ungewissheit mochte ich nicht mehr ertragen. Er war ziemlich entsetzt, dass ich so etwas von ihm dachte. Ein bisschen konnte er es nachvollziehen, aber ich glaube, er war schon extrem enttäuscht von mir. Auch wenn er mich nicht kündigte, unser gegenseitiges Vertrauen hatte gehörig unter diesem Vorfall gelitten. Die Ermittlungen der Polizei wurden ebenfalls eingestellt, da es auch so keine weiteren Anhaltspunkte gab und inzwischen war der Exmitarbeiter in eine andere Stadt gezogen und die Wut meines Chefs verraucht.
Sport ist Mord
Dank der Katze und der Lilie bekam ich Kontakt zu einer Sportgruppe. Dort waren auch die Geschwister der Unfallkönigin schlechthin, die inzwischen jedoch nicht mehr in Wien wohnt. Auf jeden Fall standen die beiden ihrer großen Schwester in nichts nach, wobei auch die anderen häufig mit Blessuren ankamen. Ausflüge zum Autodrom endeten grundsätzlich in einem Massenanfall an Verletzten.
Im Herbst starteten wir eine größere Wanderung zu zehnt. Wir hatten Zelte und Proviant dabei, um in zwei Tagen den Schneeberg zu erklimmen. Während wir am Fluss entlang liefen, unterhielten wir uns über Computerspiele und Lieder aus unserer Kindheit. Es war eine gute Stimmung, nur unterbrochen durch die berechtigte Skepsis, als unser Führer meinte: “Ich kenn da eine Abkürzung”. Die Abkürzung, die sage und schreibe 15 m Fußweg ersparte, war ziemlich steil und hätte beinahe die ersten Opfer gefordert. Doch alles ging glatt. Bis ich in Gedanken etwas hinterher bummelte und verträumt die Berghänge hinauf schaute, während die anderen bereits Zelte am ersten Lagerplatz aufstellten und ein Lagerfeuer entzündeten. Ich kam in dem Moment dazu, als laute Schreie ertönten und eine Person reglos mitten im Feuer lag.
Stärker könnte eine Feuerprobe wohl nicht sein. Würde ich wieder zurück verfallen, wieder Flashbacks haben, wieder Panik bekommen? Zu meiner Überraschung, was mir jedoch erst im Nachhinein bewusst wurde, dachte ich gar nichts. Ich handelte einfach. Beherzt griff ich nach den Armen, zerrte den Körper aus den Flammen und rollte ihn auf dem Boden, bis das Feuer erstickt war. Einer unserer Gruppe rannte den Berg herunter, die Lilie ging rechts den Waldweg, die Katze links, um den alarmierten Rettungsdienst einweisen zu können, damit er uns auch sicher finden würde. Die anderen unterstützten bei der folgenden Reanimation. Ich hatte mir ein wenig die Haut an den Händen versengt, ansonsten ging es mir gut. Der Rettungsdienst fand uns glücklicherweise recht schnell und der Patient konnte ins Krankenhaus gebracht werden. Wir hofften das Beste und bauten die restlichen Zelte auf.
Abends saßen wir dann auf Klappstühlen im Kreis und spielten Wahrheit oder Pflicht. Hier kam dann die Katze zu ihrem Namen. Am nächsten Morgen brachen wir die Tour jedoch ab und machten uns auf den Rückweg. Den Schneeberg wollten wir ein anderes Mal, dann aber mit allen erreichen.
In einer Katastrophe endete auch der Schwimmkurs, den die Katze extra organisiert hatte. Wir hatten leider keinen genauen Überblick, wie viele dabei waren, wer zum Kurs gehörte und wer nur einfach so gerade im Schwimmbad des AX-Fitness-Centers unterwegs war. Zudem hörte man nicht wirklich auf das, was die Katze erklärte, dabei gab sie sich solche Mühe. Schlussendlich trieben nach den Tauchversuchen plötzlich bewegungslose Körper im Wasser. Einige versuchten, den anderen zu helfen, überschätzten jedoch ihre eigene Kraft und mussten dann selbst aus dem Wasser gerettet werden. Ich schaffte es, einige Leute an den Beckenrand zu ziehen, doch die nassen, schlaffen Personen aufs Trockene zu hieven, dazu fehlte mir die Kraft. Zum Glück waren der alte Hase und einer meiner AX-Media Kollegen da, die mir die Personen abnahmen. Seit meinem ersten Unfall in eben diesem Becken hatte ich fleißig trainiert, denn auf einen weiteren Krampfanfall im Wasser hatte ich keine Lust.
In kürzester Zeit waren auch Feuerwehrtaucher im Becken, um Menschen zu bergen. Leider hatte einer von ihnen anscheinend ein technisches Problem mit der Sauerstoffflasche und wurde selbst bewusstlos. Ich weiß nicht mehr, wie viele Leute wir aus dem Schwimmbecken ziehen mussten. Doch ich kann mich noch an das gestresste Gesicht vom Chefarzt erinnern, der versuchte, das Chaos zu bändigen. Zwischendrin tauchte ein Schwarm Polizisten auf, die einen Taschendieb suchten und noch gar nichts von der MANV-Lage mitbekommen hatten. Kaum hatten sie einen Großteil der Leute nach draußen verwiesen, damit die Einsatzkräfte in Ruhe arbeiten konnten, gab es auf dem Bürgersteig einen gewaltigen Rumms, gefolgt von mehreren Explosionen. Die Druckwelle war bis hinein ins Schwimmbad zu spüren, und alle, inklusive mir, zuckten vor Schreck zusammen. Und draußen? Da ließen die Polizisten die ganze Schwimmgruppe wieder herein, in Sicherheit vor den brennenden Fahrzeugen auf dem Gehsteig.
Hinterher wurde erklärt, dass ein Rettungswagen auf ein Motorrad gerollt war, dieses dadurch explodiert war und den RTW, einen weiteren RTW und einen Polizeifunkwagen in Flammen gesetzt hatte. Drinnen bekam der Chefarzt fast die Krise, da nun plötzlich dringende Transportmittel wegfielen und zudem ein Verletzter mehr versorgt werden musste. Doch es war wirklich ein großes Glück, dass die Explosion draußen nicht noch mehr Opfer gefordert hatte, denn es waren wirklich viele Menschen noch in der Nähe gewesen.
Den Tatendrang unserer Sportgruppe trübte das wenig. Sie trafen sich zum Joggen, grillen oder Autodrom fahren, wobei ich versuchte, ihnen letzteres zu verbieten, da dies immer mit einem Besuch in der Notaufnahme endete. Ich muss jedoch gestehen, dass ich auch schon selbst Autodrom gefahren bin, und es macht halt einfach Spaß.
Sport ist Mord
Dank der Katze und der Lilie bekam ich Kontakt zu einer Sportgruppe. Dort waren auch die Geschwister der Unfallkönigin schlechthin, die inzwischen jedoch nicht mehr in Wien wohnt. Auf jeden Fall standen die beiden ihrer großen Schwester in nichts nach, wobei auch die anderen häufig mit Blessuren ankamen. Ausflüge zum Autodrom endeten grundsätzlich in einem Massenanfall an Verletzten.
Im Herbst starteten wir eine größere Wanderung zu zehnt. Wir hatten Zelte und Proviant dabei, um in zwei Tagen den Schneeberg zu erklimmen. Während wir am Fluss entlang liefen, unterhielten wir uns über Computerspiele und Lieder aus unserer Kindheit. Es war eine gute Stimmung, nur unterbrochen durch die berechtigte Skepsis, als unser Führer meinte: “Ich kenn da eine Abkürzung”. Die Abkürzung, die sage und schreibe 15 m Fußweg ersparte, war ziemlich steil und hätte beinahe die ersten Opfer gefordert. Doch alles ging glatt. Bis ich in Gedanken etwas hinterher bummelte und verträumt die Berghänge hinauf schaute, während die anderen bereits Zelte am ersten Lagerplatz aufstellten und ein Lagerfeuer entzündeten. Ich kam in dem Moment dazu, als laute Schreie ertönten und eine Person reglos mitten im Feuer lag.
Stärker könnte eine Feuerprobe wohl nicht sein. Würde ich wieder zurück verfallen, wieder Flashbacks haben, wieder Panik bekommen? Zu meiner Überraschung, was mir jedoch erst im Nachhinein bewusst wurde, dachte ich gar nichts. Ich handelte einfach. Beherzt griff ich nach den Armen, zerrte den Körper aus den Flammen und rollte ihn auf dem Boden, bis das Feuer erstickt war. Einer unserer Gruppe rannte den Berg herunter, die Lilie ging rechts den Waldweg, die Katze links, um den alarmierten Rettungsdienst einweisen zu können, damit er uns auch sicher finden würde. Die anderen unterstützten bei der folgenden Reanimation. Ich hatte mir ein wenig die Haut an den Händen versengt, ansonsten ging es mir gut. Der Rettungsdienst fand uns glücklicherweise recht schnell und der Patient konnte ins Krankenhaus gebracht werden. Wir hofften das Beste und bauten die restlichen Zelte auf.
Abends saßen wir dann auf Klappstühlen im Kreis und spielten Wahrheit oder Pflicht. Hier kam dann die Katze zu ihrem Namen. Am nächsten Morgen brachen wir die Tour jedoch ab und machten uns auf den Rückweg. Den Schneeberg wollten wir ein anderes Mal, dann aber mit allen erreichen.
In einer Katastrophe endete auch der Schwimmkurs, den die Katze extra organisiert hatte. Wir hatten leider keinen genauen Überblick, wie viele dabei waren, wer zum Kurs gehörte und wer nur einfach so gerade im Schwimmbad des AX-Fitness-Centers unterwegs war. Zudem hörte man nicht wirklich auf das, was die Katze erklärte, dabei gab sie sich solche Mühe. Schlussendlich trieben nach den Tauchversuchen plötzlich bewegungslose Körper im Wasser. Einige versuchten, den anderen zu helfen, überschätzten jedoch ihre eigene Kraft und mussten dann selbst aus dem Wasser gerettet werden. Ich schaffte es, einige Leute an den Beckenrand zu ziehen, doch die nassen, schlaffen Personen aufs Trockene zu hieven, dazu fehlte mir die Kraft. Zum Glück waren der alte Hase und einer meiner AX-Media Kollegen da, die mir die Personen abnahmen. Seit meinem ersten Unfall in eben diesem Becken hatte ich fleißig trainiert, denn auf einen weiteren Krampfanfall im Wasser hatte ich keine Lust.
In kürzester Zeit waren auch Feuerwehrtaucher im Becken, um Menschen zu bergen. Leider hatte einer von ihnen anscheinend ein technisches Problem mit der Sauerstoffflasche und wurde selbst bewusstlos. Ich weiß nicht mehr, wie viele Leute wir aus dem Schwimmbecken ziehen mussten. Doch ich kann mich noch an das gestresste Gesicht vom Chefarzt erinnern, der versuchte, das Chaos zu bändigen. Zwischendrin tauchte ein Schwarm Polizisten auf, die einen Taschendieb suchten und noch gar nichts von der MANV-Lage mitbekommen hatten. Kaum hatten sie einen Großteil der Leute nach draußen verwiesen, damit die Einsatzkräfte in Ruhe arbeiten konnten, gab es auf dem Bürgersteig einen gewaltigen Rumms, gefolgt von mehreren Explosionen. Die Druckwelle war bis hinein ins Schwimmbad zu spüren, und alle, inklusive mir, zuckten vor Schreck zusammen. Und draußen? Da ließen die Polizisten die ganze Schwimmgruppe wieder herein, in Sicherheit vor den brennenden Fahrzeugen auf dem Gehsteig.
Hinterher wurde erklärt, dass ein Rettungswagen auf ein Motorrad gerollt war, dieses dadurch explodiert war und den RTW, einen weiteren RTW und einen Polizeifunkwagen in Flammen gesetzt hatte. Drinnen bekam der Chefarzt fast die Krise, da nun plötzlich dringende Transportmittel wegfielen und zudem ein Verletzter mehr versorgt werden musste. Doch es war wirklich ein großes Glück, dass die Explosion draußen nicht noch mehr Opfer gefordert hatte, denn es waren wirklich viele Menschen noch in der Nähe gewesen.
Den Tatendrang unserer Sportgruppe trübte das wenig. Sie trafen sich zum Joggen, grillen oder Autodrom fahren, wobei ich versuchte, ihnen letzteres zu verbieten, da dies immer mit einem Besuch in der Notaufnahme endete. Ich muss jedoch gestehen, dass ich auch schon selbst Autodrom gefahren bin, und es macht halt einfach Spaß.
Ein kleines bisschen Hilfestellung
Die Katze rief an. Sie war mit Engel wandern gewesen, und nun hatte sie Angst, da unten am Berg ein fremdes, dunkles Auto stand.
Es kam sehr oft vor, dass die Katze Angst hatte und das fand ich in Ordnung und teilweise sogar nützlich. Denn irgendwer musste den übermütigen, furchtlosen Mütze ja im Zaum halten.
Wir fuhren also zum Rax, stiegen aus, liefen äußerst unauffällig, ich trug noch meine leuchtend gelbe Presseweste, zu besagter Stelle und fanden das Fahrzeug. Da aber keiner in der Nähe war, gaben wir der Katze Entwarnung und warteten auf sie. Dann spazierten wir gemeinsam den Weg zurück, bis zum Haus am Leuchtturm. Dort kam uns spontan eine Idee und wir überrumpelten Engel damit, indem ich ihm unauffällig eine Whatsapp dazu schickte.
Wir warteten bis zur Dämmerung, dann versteckten sich Mütze, die Lilie und ich kurz hinter dem Leuchtturmhaus, um dann mit Rosen in der Hand nach vorne zu laufen, während die Lilie ein Liebeslied auf dem Handy abspielte. Engel musste sich schnell ein Liebesgedicht aus dem Hut, bzw. aus dem Internet zaubern (ich frage mich bis heute, wie er bei all den Gedichten in Google ausgerechnet auf dieses gekommen ist).
Die Katze war auf alle Fälle überrascht, dachte, wir hätten die Aktion lange geplant und verstand nicht, was Engel mit dem Gedicht sagen wollte. Ich auch nicht. Aber immerhin hat er es später bei einem Doppeldate zwischen der Lilie und dem Sanftmütigen und der Katze und ihm mit einem selbstgeschriebenen Gedicht wieder wettgemacht. Schließlich waren sie offiziell zusammen, und nicht mehr nur “reserviert”, wie die Katze es bis dahin nannte. Sie waren ein sehr niedliches Pärchen, auch wenn man Engel manchmal einen Wink mit dem Zaunpfahl geben musste und die Katze sich gerne die schlimmsten Dinge ausmalte, bloß weil Engel vergessen hatte, gute Nacht zu sagen. Aber wozu hat man schließlich Freunde, wenn nicht dazu, einem die rosarote Brille abzunehmen, zu putzen und wieder aufzusetzen.
Begegnung mit dem Tiger
Mit den meisten Menschen pflegte ich ein gutes oder zumindest neutrales Verhältnis und ich glaube, die meisten hatten entweder ein positives oder schlicht gar kein Bild von mir. Wie gesagt, bei den meisten. Und dann gab es da noch den weißen Tiger. Dieses Bild kommt mir am ehesten in den Kopf, wenn ich an ihn denke. An einen sumpfigen Wald, der am Rand in weite Steppe übergeht. Das Gras der Steppe wirkt grau im fahlen Mondlicht und zwischen den hohen, fast schwarzen Bäumen kriecht Nebel in die weite Fläche hinaus. An dieser verschwommenen Grenze begegnen sich ein weißer Tiger, unter dessen Fell sich die Muskeln spannen und der sich trotz seiner Größe völlig lautlos bewegt, und eine Löwin, ein wenig kleiner, doch mit der Eleganz, wie sie nur Raubkatzen haben. Sie halten kurz inne und schauen sich stumm in die gelb leuchtenden Augen, erstarrt in gegenseitiger Ehrfurcht und Respekt, bevor sie, ohne ein weiteres Wort, beide ihren Weg in ihrem Teil der Natur fortsetzen, ohne zu wissen, ob sich ihre Wege je wieder kreuzen würden. So ein flüchtiger, mystischer Moment…
Nun ja, manchmal kann ich meine poetische Ader schwer bremsen. Auf alle Fälle ärgert es mich sehr, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann und wo wir uns das erste Mal begegnet sind, denn sonst könnte ich vielleicht herausfinden, was damals schiefgelaufen ist. Denn aus irgendeinem Grund hatte der weiße Tiger anscheinend gehörigen Respekt vor mir oder hielt mich einfach für ein grundlegend bösartiges Wesen. „Wenn die Frau Scharfenstein in der Nähe ist, dann muss ich immer genau aufpassen, was ich mache.”, erklärte er einmal, „Ich hab immer das Gefühl, dass die mich wegen allem anzeigen will.“
Im Umgang miteinander pflegten wir die höchsten Formen der Höflichkeit, wohl aus gegenseitigem Respekt voreinander. Als ich mich mit einer Polizistin anfreundete, fand ich auch endlich den Namen des weißen Tigers heraus, denn bis dahin wusste ich nur, dass es sich um einen Polizeibeamten handelte.
Ich machte den großen Fehler, der Katze zu erzählen, dass ich den weißen Tiger interessant fand, einfach nur so als Persönlichkeit, und dass ich gerne einen besseren Eindruck auf ihn machen wollte. Die Katze sah das als Auftrag, ein Treffen zu organisieren. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Telefonnummer des weißen Tigers und während ich wehrlos am Steuer des Ax-Media-Vans saß und mich aufs Fahren konzentrieren musste, rief sie ihn einfach an und erzählte, sie sei die Assistentin von Frau Scharfenstein, und natürlich könnte ich ihm eine Schulung zur Weiterbildung im medizinischen Bereich geben. Ein paar Tage zuvor war der weiße Tiger nämlich auf der Rettungswache aufgetaucht, hatte sich diese angeschaut und um eine Weiterbildung gebeten.
Während die Katze munter ins Handy quatschte und ich hektisch versuchte, zum Wald, wo kein Handyempfang mehr war, zu fahren, schrammte ich auch noch an einer Mauer entlang und verursachte einen dicken Kratzer. Die Reparaturrechnung zahlte ich dann später selber, damit ich nicht dem Chef erklären musste, warum das Firmenauto schon wieder beim ÖAMTC gewesen war. Einige Tage später kam das Treffen dann tatsächlich zustande. Wir fuhren einen Einsatz miteinander, er machte seine Arbeit großartig, verstand es, SAMPler anzuwenden, Fixierungsfehler zu vermeiden und sich gut mit dem Patienten zu unterhalten. Viel anmerken konnte ich da nicht. Bei der Rückkehr zur Wache standen dann einige Kollegen draußen im Kreis. Sie erzählten ihre Geschichten, machten ihre Witze, eben so wie immer. Aber manchmal, da waren mir ihre Sprüche einfach zu viel. Ich hatte mich inzwischen an einiges gewöhnt, die Witze unter der Gürtellinie ignorieren gelernt. Doch wenn ich mit etwas nicht gut zurecht kam, dann war es die Respektlosigkeit, die gewisse Personen an den Tag zu legen pflegten, zumindest solange, wie kein Vorgesetzter hinschaute. Und so verließ ich die feixende Truppe und damit auch den weißen Tiger, um meine Ruhe zu haben, wenn auch mit Bedauern. Einsätze waren eh keine, und der weiße Tiger schien sich hervorragend mit ihnen zu verstehen. Ganz so dringend war die Weiterbildung für ihn anscheinend nicht.
Noch mehr Menschen
Ich versuche ja immer, möglichst passende Namen für die Personen zu finden, denen ich so im Leben begegnet bin. Manchmal ist es schnell und klar, manchmal dauert es auch ewig. Für den Kollegen von Engel, den die Katze spontan mit zum Grillen eingeladen hatte, musste ich eine Weile überlegen. Um seinen häufigsten Job auf dem Beifahrersitz meines Autos zu würdigen, ist die Entscheidung auf “der Navigator” gefallen. Passend für diese Aufgabe hatten wir oft ein paar Verständigungsprobleme. Manchmal befand sich seine Stimmlage auf einer Frequenz, die meine Ohren einfach nicht mehr differenziert wahrnehmen konnten, und dann kam lediglich ein gleichmäßiges, rhythmisch-monotones Brummen bei mir an.
Den Navigator lernte ich ursprünglich mit der Katze und Mütze beim Stephansplatz kennen, als er gerade zum fünften Mal durch die Führerscheinprüfung fiel. Wir beschlossen, ihm zu helfen. Mütze schaute an jeder Kreuzung nach rechts, ob frei war. Die Katze piepste sich die Seele aus dem Leib, sobald wir uns einer Ampel oder Haltelinie näherten und ich hatte die ehrenvolle Aufgabe, loszumeckern, sobald der Tacho mehr als 50 km/h anzeigte, welche ich liebend gerne erfüllte. Tatsächlich bestand er, und den LKW-Führerschein und Bus-Führerschein machte er gleich hinterher. Die zweite Begegnung war dann beim Grillen und mit der Zeit gehörte auch er zu unserem engeren Freundeskreis.
Eine weitere wichtige Person in meinem Leben wurde die Drachenzähmerin. Diese Dame gewann sehr schnell meine Bewunderung und ihren Namen, als sie bei einem Einsatz mit meinem Chef und dem alten Hasen gleichzeitig diskutierte und dabei die Oberhand behielt, ohne persönlich oder beleidigend zu werden. Ich verstand mich sehr gut mit der Polizistin, und während wir gemeinsam bei einer Flughafenabsicherung herumstanden, sie in Polizeiuniform, ich als Notfallsanitäterin, tauschten wir Nummern aus, auch aufgrund meines Jobs bei der AX Media Group, um bei öffentlichkeitsrelevanten Vorfällen informiert werden zu können. Sie erwähnte nebenbei, dass sie eine Kollegin fragen wollte, ob sie zusammen eine WG gründen könnten. Der Wohnraum war schließlich recht teuer in und um Wien. Während ich unterwegs war, schlug ich ihr ein Haus vor, von dem ich das Gefühl hatte, dass es ganz hübsch wäre und gut zur Drachenzähmerin passen würde. Gleichzeitig hielt ich selbst Ausschau nach einer Wohnung.
Bei einem zufälligen Gespräch erfuhr ich, dass ihre Kollegin bereits andere Pläne hatte und das mit der WG nicht klappen würde. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte, ob die Drachenzähmerin stattdessen auch mit mir Vorlieb nehmen würde. Die grundlegende Sympathie war da, wir waren beide eher ruhige, verlässliche Menschen und kamen gut miteinander zurecht, auch wenn wir uns noch nicht lange kannten. Zudem konnte ich sicher sein, dass die Drachenzähmerin keine zwielichtigen Gestalten zu eskalierenden Hauspartys einladen würde oder unser Haus in ein Kletterparadies für Müllberg-Steiger verwandeln würde.
Die Drachenzähmerin freute sich über meine Frage und sagte zu. Der Plan stand, nun fehlte nur noch die Umsetzung.
Sesshaft werden
Die Katze war von uns die erste, die sich ein eigenes Haus kaufte. Sie schuftete dafür Teilzeit auf einer Baustelle, um das von der Regierung beschlagnahmte Haus ihrer bereits verstorbenen Oma zurückzukaufen. Die Katze musste eine sehr interessante Oma gehabt haben. Ich hatte sie zwar nie persönlich kennengelernt, aber die Geschichten über sie waren schon sehr abenteuerlich und reichten von “Heilkräutern” im Garten, gruseligen Bildern auf dem Dachboden bis zu vermuteten Kontakten zu damaligen Mördern.
Die perfekte Großmutter für einen grundlegend ängstlichen Menschen, wie die Katze eben einer war.
Sie war aber keinesfalls feige, nur eben ein wenig vorsichtiger als der Durchschnitt und dadurch war ich plötzlich die Mutigere in unserer Gruppe. Mit dieser Rolle musste ich erst einmal zurecht kommen und oft war ich nicht die Beschützerin, die ich gerne hätte sein wollen.
Wenn es die Arbeit zuließ und ich nicht im Rettungsdienst war, dann waren wir im Freundeskreis meist über Amateurfunkgeräte verbunden und hielten uns so gegenseitig auf dem Laufenden. Herzschmerz-Funk, so hatten wir ihn getauft, denn wir hatten damit angefangen, als sich die Katze zum ersten Mal mit Engel getroffen hatte
Eines Tages erzählte mir die Katze über diesen Funk folgendes Ereignis: Sie war wie immer auf der Baustelle unterwegs gewesen, um sich ihr Haus zu erarbeiten. Es war eine eher abgelegene Baustelle und der Bauherr hatte es wohl nicht für nötig gehalten, hier eine Bautoilette zu errichten. Bevor sie sich also hinter einem Busch womöglich eine Blasenentzündung holte, es war schließlich bereits Herbst, lief sie zur nahe gelegenen Wohnsiedlung. Sie hatte Glück, wobei sich das im Nachhinein eher als Pech herausstellte. In einem Vorgarten veranstalteten mehrere Leute gerade eine kleine Grillparty. Die Katze fragte, ob sie die Toilette benutzen dürfte und bekam die Erlaubnis. Aber während sie dort dann saß, schauten durch das Fenster, das ungünstiger Weise keine Jalousien besaß und natürlich im Erdgeschoss lag, zwei der Herren aus dem Garten herein. Entrüstet berichtete sie mir davon im Funk, denn die Männer seien wohl nicht nur zufällig gerade dort vorbeigekommen, sondern hätten sie regelrecht beobachtet. Diese Frechheit wollte ich so nicht stehen lassen. Ich fuhr mit meinem kleinen Moped zu der Adresse, die mir die Katze genannt hatte. Sie hatte das Haus so schnell wie möglich verlassen und wartete an der Straße auf mich. Ich stürmte in den Garten, ignorierte den Rettungsdienst und stellte einen der Herren zur Rede. Die Katze versteckte sich schräg hinter mir und flüsterte, ich solle aber nicht zu streng sein.
Ich würde nun gerne schreiben, wie ich die Kerle verbal zur Schnecke gemacht habe, doch das kann ich leider nicht, da es nicht der Wahrheit entspräche. Natürlich äußerte ich meine Empörung und forderte, das sie sich bei der Katze entschuldigten. Sie kamen jedoch mit einigen wirren Ausreden, entschuldigten sich auch nicht und da mir die Schlagfertigkeit fehlte, gingen wir, ohne wirklich etwas erreicht zu haben. Vielleicht kann man zu meiner Ehrenrettung sagen, das ich lediglich die Situation nicht weiter eskalieren lassen wollte, da nebenher die Rettung einen der Grillgäste reanimierte und das sehr unpassend gewesen wäre. Doch insgeheim wünschte ich mir in dem Moment jemanden wie den weißen Tiger, der schon allein mit seiner Anwesenheit Leute zum schweigen brachte. Später traf ich einen der Herren tatsächlich wieder, er arbeitete bei der Polizei und erzählte mir während einer Besichtigung der Rettungswache, wie viele Hundewelpen und Delfine er schon gerettet habe. Ich strafte ihn mit dem größtmöglichen Desinteresse, das ich nur aufbringen konnte, ohne die Regeln der Höflichkeit zu verletzen, und das ist kein besonders guter Kompromiss, da ihn keiner bemerkt.
Doch zurück zu den Häusern: Natürlich wollte ich gerne in der Nähe meiner besten Freundin wohnen, zumal sich auch Frechdachs in der Umgebung ein Haus angeschaut hatte, das zum Verkauf stand. Die Drachenzähmerin fand die Gegend auch sehr schön und wollte ebenfalls nicht zu weit weg vom Zentrum Wiens wohnen. Ich traf eine Vorauswahl an möglichen Immobilien, dann trafen wir uns zur Besichtigung. Für uns beide war klar, dass wir einen großen, grünen Garten haben wollten. Die zugepflasterten Gärten hinter mancher schönen Villa gruselten mich mehr als die Oma der Katze. „Hier könnten auch Blumen stehen.“, schienen mich die Betonplatten anzuschreien wie aufdringliche Werbeplakate. Da sie gerne schwimmen ging, wollte die Drachenzähmerin zudem gerne einen Pool im Garten, während mir vor allem die Gebäudeform wichtig war. Nicht so ein moderner Kastenbau, sondern ein klein wenig verwinkelt, zweistöckig und mit ein paar liebenswerten Details. Tatsächlich kamen vier Gebäude für uns in Frage und zur Preisanfrage an die Makler. Auch wenn die Kosten etwas über unserem geplanten Budget lagen, entschieden wir uns schließlich für unseren einstimmigen Favoriten: Zwei Häuser weiter vom Wohnort der Katze stand es, von mittlerer Größe, ein bisschen nach hinten versetzt und mit rauem, grau-weißem Putz verputzt. Links gab es eine große Garage mit einem überdachten Durchgang zum Garten, der ans Haus anschloss. Die zweite Etage besaß eine etwas kleinere Grundfläche und einen winzigen Balkon, der wie der Ausguck eines Burgfrieds auf die Straße schaute. Mannshohe Hecken schirmten das Grundstück vor Straßenlärm und unliebsamen Blicken ab. Der Garten war riesig, mit einem nierenförmigen Pool, einem wunderschönen Gartenhäuschen, das halb von Efeu überwachsen war und einer Terrasse mit hölzernem Boden. Wir hatten uns beide in das Haus verliebt.
Während der Besichtigung tauchte im Übrigen der weiße Tiger auf, um einen kurzen Plausch mit der Drachenzähmerin zu halten. Er musste sich jedoch rasch wieder verabschieden, da ein Einsatz rief. Später am Abend rief er noch an, dass wir beide vorsichtig sein sollten. Es seien einige finstere Gestalten aus dem Gefängnis entkommen, für die zwei junge Frauen allein unterwegs zwei hervorragende Geiseln abgeben würden. Ich fand es sehr liebenswert, wie er sich um seine Kollegin sorgte, auch wenn ich seine Befürchtung eher weniger teilte. Wien war groß, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Verbrecher ausgerechnet in diese Wohngegend verirrten, war gering. Doch die Voraussicht des weißen Tigers sollte auf gewisse Weise recht behalten.
Löwenmutterherz
Endlich hatten die Drachenzähmerin und ich unser Haus gekauft. Leider hatte sie nicht viel Zeit und musste schon bald darauf wieder arbeiten. Doch ich konnte mich gemütlich dem Einrichten meines Zimmers widmen. Zumindest war es gemütlich, bis aus dem Funkgerät, das ich neben mich auf die bisher einzige Kommode im Raum gelegt hatte, Mützes Stimme plärrte: “Ist die Polizei denn jetzt schon da?”
Perplex hielt ich inne. Polizei? Bei wem? Und warum? Ich fragte nach. Die Nachricht war erschütternd. Die Katze war in ihrem eigenen Garten überfallen worden, mit vorgehaltener Waffe hatte man ihr einen Sack über den Kopf gezogen und ihr ganzes Bargeld, das Handy und auch das Funkgerät abgenommen. Was aber noch viel schlimmer war: Sie nahmen Engel mit.
Die Katze schaffte es, sich selbst von dem Sack zu befreien und zufällig kam die Lilie kurz darauf vorbei, um ihre aufgelöste Freundin im Vorgarten zu finden. Die Polizei wurde informiert. Aufgrund extremer Unterbesetzung dauerte es jedoch ewig, bis diese eintraf. Inzwischen war Mütze schon längst da und ich rannte die wenigen Meter von meinem Haus zu dem der Katze. Stupides warten konnte keiner von uns gut haben. Darum fuhr Franz zum AKH, um zu schauen, ob Engel verletzt eingeliefert worden war. Vor Ort fand er sogar zwei Polizisten, die er dann weiter zu uns schicken wollte. Doch die hatten bereits mit einem Schusswechsel in der Nähe des Krankenhauses zu tun.
Ich schnappte mir mein Moped und raste, sofern man teilweise 10 km/h bergauf als rasen bezeichnen kann, in den Norden. Kreuz und quer über einige Waldwege, hinauf zum Observatorium und wieder zurück zum Haus der Katze. Etwas auffälliges konnte ich nicht entdecken, aber Hauptsache ich konnte etwas tun.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, es waren sicherlich nur ein paar Stunden gewesen, kam die erlösende Nachricht über Funk. “Ich hab ihn, ich hab Engel!”, rief Mütze aufgeregt. Er war beim Shoppingcenter und hatte dort zufällig Engel entdeckt. Mütze packte ihn ins Auto und raste zurück zum Haus der Katze. Engel war ziemlich durch den Wind. Nervös, verängstigt, mitgenommen. Nach einer stürmischen Begrüßung durch die Katze und einer kurzen Untersuchung auf äußere Verletzungen, nahm Engel mich beiseite.
„Kann ich dir das unter ärztlicher Schweigepflicht erzählen?“, fragte er, während er sich mit einer Hand immer wieder hektisch durch die Haare fuhr und dazwischen seine Finger gegenseitig verknotete, um die Anspannung abzubauen. Ich überlegte nur kurz. Ich war zwar nicht im Dienst, doch wenn es Engel anscheinend wichtig war, sich jemandem anzuvertrauen, dann war ich für ihn da. „In Ordnung. Dann stehe ich jetzt gerade in meiner Funktion als Notfallsanitäterin vor dir.“, stimmte ich zu.
Engels Bericht erschütterte mich. Was hatte der Arme bloß durchmachen müssen? Sie hatten ihn gefesselt und mit einer Augenbinde auf die Ladefläche eines Pickups verfrachtet. In einer heruntergekommenen Hütte im Norden wurde ihm die Augenbinde abgenommen. „Sie können sich denken, was wir wollen.“, so wurde er begrüßt. Sie hielten ihm eine Waffe an den Kopf und forderten Informationen. Jedesmal, wenn Engel länger zum Antworten brauchte, kam die Waffe näher. Er musste alles sagen, was er wusste. Selbst wenn er lügen wollte, oder sagen wollte, er wisse es nicht: sie hatten immer ein Druckmittel. Die Katze. Und in weiterer Linie auch uns als Freundeskreis.
Am Ende des Verhörs musste er noch vor seinen Entführern auf die Knie gehen und sich entschuldigen. Dazu hatte einer der Täter seine Maske abgenommen. Es war der Anführer der schwarzen Hyänen höchstpersönlich, mit denen sich Engel schon zuvor ein wenig angelegt hatte. Wie sollte man es am ehesten umschreiben: Engel hatte eben manchmal eine große Klappe und scheute sich nicht, mit Wörtern zurückzuschießen, wenn ihm jemand blöd kam. So hatte sich das gegenseitig aufgewiegelt und nun hatten die Hyänen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einem konnten sie Informationen erpressen und zum anderen konnten sie sich an Engels Wehrlosigkeit und Angst ergötzen und ihre persönliche Rache nehmen.
Während des Berichtens versagte immer wieder Engels Stimme, er war noch völlig im Geschehen gefangen. Sie hatten ihm eine offizielle Variante der Entführung genannt, die er gegenüber uns und der Polizei erzählen sollte. Es sei alles nur eine Verwechslung gewesen und er habe keinen erkannt. Sollte er die Täter verraten, würde die Katze verschwinden – und nicht zurückkehren.
Ich konnte nur versuchen, mir vorzustellen, was für ein enormer Druck auf ihm lastete. Er wusste um die Gefahr, hatte sie hautnah miterlebt und nun Angst. Nicht nur Angst um das eigene Leben, nein, vor allem Angst um die Katze. Und mit jedem Wort, das er zu viel redete, brachte er sie näher zum Tod. Doch mit jedem Wort, das er nicht redete, brachte er sie gleichzeitig weiter weg von sich. Denn natürlich merkte die Katze, als er mit ihr sprach, dass er log. Sie war sich schließlich sicher, wer die Täter gewesen sein mussten, denn kurz zuvor hatte sie Goldregen in der Nachbarschaft herumlaufen sehen, in einer gestreiften Leggins. Goldregen war eine junge Dame, die Mitglied bei den schwarzen Hyänen war, und mit der die Katze eigentlich ganz gut befreundet war. Eigentlich. So wie Goldregen eigentlich eine sehr hübsche Pflanze ist. Jedoch hochgitftig.
Dieselbe gestreifte Leggins trug eine der maskierten Personen bei dem Überfall im Garten der Katze, und das musste Engel doch schließlich auch bemerkt haben, so die Katze. Aber Engel blieb dabei. Es sei lediglich eine Verwechslung gewesen.
Die Polizei traf überraschenderweise doch noch beim Haus der Katze ein. Sie befragten die Katze, Mütze und die Lilie, übersahen Engel aber völlig. Vielleicht lag es daran, das einer der Beamten vermutlich viel zu wenig getrunken hatte, kurz ohnmächtig wurde und die Rettung kommen musste. Die Katze äußerte ihre Vermutung, das die schwarzen Hyänen hinter der Entführung steckten. Ich überlegte verzweifelt, wie ich sie in ihrem Verdacht bremsen sollte. Wenn nun die Polizei tatsächlich einige der Hyänen dafür verhaften würde, dann wäre doch sicher klar, von wem der Hinweis kam. Dann wäre die Katze nur noch mehr in Gefahr. Eine Einzelperson zu fassen und zu Rechenschaft zu ziehen, das wäre leicht. Doch sich mit einer ganzen kriminellen Gruppierung anzulegen, das würde Kreise nach sich ziehen, die ich mir nicht vorzustellen vermochte. Trotzdem, einfach unter den Tisch fallen lassen konnte ich die Sache auch nicht, schon allein wenn ich an Engel dachte, wie er zitternd vor mir gestanden hatte und von der Entführung berichtet hatte. Die Katze und Engel waren gute Freunde von mir, nein: Sie waren meine neue Familie. Und wenn einem einmal die Familie genommen wurde, dann entwickelt man einen unfassbar starken Beschützerinstinkt für die Menschen, die einem noch geblieben sind.
Engel erleichterte mir die Angelegenheit erheblich, indem er dann doch sein Schweigen brach. Er erzählte zunächst uns, also der Katze, Lilie, Mütze und mir, den wahren Ablauf. Die Katze war entsetzt. Vor allem von der Tatsache, das nun hunderprozentig bestätigt war, das Goldregen beteiligt war. Sie hatte sogar, ebenso wie der neue Anführer der Hyänen, ihre Maske vor Engel abgesetzt und sich zu erkennen gegeben. Der Verrat saß tief, die Katze blockierte Goldregen und vermied jegliche Begegnung mit den schwarzen Hyänen. Die Zeugenaussage von Engel wurde nachgeholt, dazu trafen wir uns im AX Media Hauptquartier, dem einzigen Ort, an dem sich die Katze und Engel noch halbwegs sicher fühlten. Wir blieben den restlichen Tag dort, denn die Polizei startete eine Aktion und immer wieder streifte draußen der bedrohliche Pickup der Hyänen umher. Für eine Weile war auch der weiße Tiger vor Ort, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Er hatte uns vor den schwarzen Hyänen gewarnt, doch ich hatte nur halbherzig zugehört. Ich hatte lange geglaubt, dass man, wenn man respektvoll miteinander umging, keine Probleme mit den Hyänen haben würde. Dass sie die Katze auf ihrem eigenen Grundstück überfallen und einen unserer Freunde entführen würden, das hätte ich ihnen niemals zugetraut.
Ob der Einsatz der Polizei erfolgreich war, erfuhren wir nie. Die Katze durfte nicht mehr in das Haus ihrer Oma und hatte nach wie vor Angst. Die Lilie versuchte allmählich, wieder diplomatischen Kontakt zu den Hyänen aufzunehmen, ohne sich anmerken zu lassen, das wir wussten, was sie getan hatten. Die Katze konnte das überhaupt nicht verstehen. Man hatte ihren Freund entführt, sie überfallen und eine Drohung gegen uns alle ausgesprochen. Mit solchen Leuten wollte sie nichts mehr zu tun haben. Ich stand irgendwo dazwischen. Den Plan der Lilie fand ich gut, waren die Mittel der Polizei doch begrenzt und solche Seiltänzer wie sie, die überallhin ihre Kontakte pflegten, konnten im Zweifel lebensrettend sein. Äußerlich gab ich mich unwissend, doch innerlich hatte ich den schwarzen Hyänen noch lange nicht vergeben und würde es wohl erst tun, wenn auch die Katze und Engel bereit dazu wären.
Um der Katze ein wenig die Angst zu nehmen, überlegten wir uns Sicherheitsmaßnahmen. Die ersten Tage nach dem Ereignis war keiner allein unterwegs. Zu dritt gingen wir Frauen zum Friseur und ließen uns die exakt gleiche Frisur mit der gleichen Haarfarbe machen. Dann wurde dreimal derselbe dunkelgrau karierte Wintermantel gekauft, dazu ein passender Pullover und unpraktisch weiße Schuhe. Die Schuhe waren die Wahl der Katze, ich persönlich hätte sie nie freiwillig getragen. Wer auch immer weiße Schuhe erfunden hatte, musste sein ganzes Leben innerhalb seiner vier Wände verbracht haben. Denn unterwegs im Alltag verwandelte sich das strahlende weiß in sekundenschnelle zu einem schmutzigen hellgrau.
Von hinten waren wir nun nicht mehr auseinander zuhalten, von vorne nur noch sehr schwierig. Wer auch immer es nun versuchen sollte, die Katze zu entführen, würde entweder Glücksspiel oder den dreifachen Aufwand betreiben müssen.
Realistisch betrachtet waren unsere Versuche, Sicherheit herzustellen, wohl sehr lächerlich. Immerhin hatten sie einen psychologischen Effekt und die Hyänen sahen, das wir zusammen hielten. Obwohl es in unserer Freundesgruppe durchaus zu Diskussionen kam. War Engel wirklich so unschuldig an dem Ganzen? Hatte er es nicht gewissermaßen provoziert? Wusste er mehr, als er zu gab? Besonders der Navigator hegte seine Zweifel gegen Engel. Ich hatte mich längst für eine Seite entschieden und mich entschlossen, alles zu tun, um meine Freunde vor den Hyänen zu beschützen. Wie so oft griff ich zum Kugelschreiber, um meine Gefühle festzuhalten, und damit mein Gedicht auch beim Empfänger ankam, veröffentlichte ich es, jedoch anonym. Es sollte schließlich nur eine unterschwellige Warnung sein, keine öffentliche Kampfansage. Meinen Künstlernamen wählte ich bewusst, Merimna, auch wenn ich nicht damit rechnete, das jemand die Bedeutung erfassen würde. Das Gedicht handelte von dem, was ich in mir fühlte, vom plötzlich erwachten Löwenmutterherz:
Löwenmutterherz
Hör, das Brüllen der Löwin.
Wie sie durch die Großstadtsavanne schleicht
und zwischen den Häuserschluchten streift.
Wer hat es gewagt, sie geweckt?
Sie, die Ruhige, die Stille, die Sanfte,
die ihre Krallen nur tief und verborgen
in ihrer weichen Pranke trägt
und die lieber selbst wird geschlagen,
bevor sie jemanden schlägt.
Doch wehe, du raubst ihr ihr Junges.
Dann erwacht ihre Löwenmutterherz.
Das tief in ihr schlummert, und wartet,
bereit und gerüstet zum Kampf und geschürt von dem Schmerz,
den die schwarzen Hyänen dem Löwenkind bringen.
Dann endet das Schweigen.
Ihr Auge ist wachsam, die Ohren gespitzt
Sie wittert Gefahr für ihr Junges,
das kostbarste, was sie im Leben besitzt,
und was sie mit diesem verteidigt.
Denn dafür schlägt in ihr ein machtvolles Herz,
das Frieden wahrt, solange es geht,
doch ist es zu spät,
dann scheut es vor nichts.
Mit sicheren Schritten setzt sie ihre Pfoten
ungerührt auf heißen Asphalt.
Sie weiß es, zu spielen,
sie weiß, sich zu geben
und äußerlich zeigt sie sich kalt.
Sie kennt ihre Wege,
sie deutet die Zeichen,
sie wird auch vor Aasadlern nicht weichen,
wenn sie um ihr Junges Kreise ziehen.
Vermutlich haben die Hyänen nie begriffen, dass es um sie ging. Doch das machte nichts, es würde nicht mein letztes Gedicht sein.