Dieses Audio wurde gesprochen von: Andi

KAPITEL 16

Bürgerkrieg

 

Gut, vielleicht ist dieses Wort etwas übertrieben. Dennoch, für kurze Zeit hatte man das Gefühl, eher in Syrien zu leben als in Wien.

 

Es begann recht harmlos mit einer Gruppe Menschen bei Wien Mitte, die alle dieselben grauen Arbeitsklamotten trugen. Wobei – nein – es begann eigentlich schon am Tag zuvor. Im Rettungsdienst herrschte eine gewisse Unruhe. Man solle sich für einen möglichen, größeren Einsatz vorbereiten.

Ich startete den Tag jedoch im Dienste des Journalismus, sollte es eskalieren, so konnte man mich schließlich immer noch nachfordern. Außer mir waren noch mein Chef und die Lilie da, wobei die Lilie zusammen mit der Katze und dem alten Hasen in dessen schwarzem Mercedes unterwegs war. Die Katze war eine Freundin von der Lilie und bei einem Campingausflug erzählte sie beim Spiel Wahrheit oder Pflicht, dass, wenn sie ein Tier wäre, sie eine Katze sein wollen würde.

Warum die Stimmung angespannt war, entdeckte ich vor dem SPK 1. Eine unzählige Ansammlung an Polizeifahrzeugen blockierte die Zufahrtswege, eine Libelle kreiste in der Luft und nach einer Weile war auch der Grund für das ganze erkennbar: drei riesenhafte, gepanzerte LKWs machten sich behäbig auf den Weg. Ich machte ein paar Bilder und fuhr Richtung Mödling, denn ich vermutete, dass der Konvoi dort als nächstes auftauchen würde. Ich irrte mich, doch die anonymen Informationen der Bürger brachten unser Team schon bald wieder auf die richtige Spur nach Wiener Neustadt. Eine ganze Weile folgten wir dem Konvoi, wann immer er anhielt, machten auch wir kurz Rast, um einige Bilder zu machen und schlussendlich herauszufinden, wohin der Tross eigentlich unterwegs war. 

 

Man merkte ein wenig, dass die Polizei nicht gerade begeistert von unserem Vorhaben war, doch was sollte man ihr vorwerfen, wir stellten schließlich ein erhöhtes Sicherheitsrisiko dar. Das letzte Fahrzeug des Konvois bremste uns auf der Autobahn bewusst aus, sodass wir im Industrieviertel Wiens die Sicht verloren. Also lautete das Kommando ausschwärmen und Ausschau halten.

Wir hatten Erfolg und fanden den Zug in der Nähe des Flughafens wieder. Dann lief plötzlich alles sehr schnell und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an alles richtig erinnere. 

Zwei Hummer überholten mich, da beschlich mich bereits ein ungutes Gefühl. Vor dem Flughafen befindet sich eine Art riesiger Kreisverkehr, es ist nicht wirklich einer, aber es ist eben eine runde Strecke, auf der man theoretisch ewig im Kreis fahren könnte. Plötzlich fielen vor mir Schüsse, ich trat sofort auf die Bremse. Der Kreisverkehr ist zwar offiziell eine Einbahnstraße, aber ich bin sicher, keiner wird es einem übel nehmen, wenn man falsch herum fährt, um sich vor einem Schusswechsel in Sicherheit zu bringen. Doch gerade als ich den Rückwärtsgang einlegen wollte, ertönten auch hinter mir Schüsse. Über Funk bekam ich mit, dass es meinem Chef und den anderen im Mercedes ähnlich ging. Sie wollten dorthin fahren, ein Polizist rief: “Nicht da hin, weg da!”. Sie wollten in die andere Richtung: “Halt, nicht da lang!” Also taten wir das einzige, das uns noch blieb: Wir verharrten an Ort und Stelle, auch um den ständig im Kreisverkehr vorbei rasenden Polizeiautos nicht in den Weg zu kommen. Mich traf es da noch recht günstig: Ich schaffte es, von der Straße zurückzusetzen, mich halb hinter einer Hauswand zu parken und dort, so tief es ging, in den Fußraum zu ducken. Ich bekam noch mit, dass kurzzeitig ein Motorrad hinter mir parkte, ich vermutete, dass es zu den Angreifern auf den Konvoi gehörte, doch zum Glück ließ mich der Fahrer in Ruhe und verschwand bald wieder.

Meine Kollegen waren vollkommen deckungslos auf einem Grünstreifen zwischen den Straßen zum Stehen gekommen. Die arme Katze war zum ersten Mal mit uns unterwegs und wird wohl den Schock ihres Lebens bekommen haben – wir jedoch auch.

Irgendwann verstummten die Schüsse und sämtliche Polizeifahrzeuge waren plötzlich verschwunden. Wir machten uns auch aus dem Staub, nur weg von dort, war unser Gedanke.

Doch auf einer Brücke in der Nähe lag jemand neben seinem Auto mitten auf der Straße. Er trug graue Arbeitskleidung und hatte Schussverletzungen. Sicherlich war er bei dem Angriff dabei gewesen. Doch Mensch ist Mensch und als Notfallsanitäterin war es meine Aufgabe, jedem zu helfen. Ich versuchte die Rettung zu erreichen – landete jedoch in der Warteschleife. Natürlich, unten am Flughafen hatte gerade die Schießerei des Jahrhunderts stattgefunden und sicherlich liefen die Leitstellentelefone gerade heiß.

Ich zerrte den Mann auf den Bürgersteig und begann, notdürftig die Blutungen zu stoppen. Ein Fahrzeug hielt neben mir an. Jemand rief: “Die werden von der Rettung gerade keine freien Mittel haben, unten am Flughafen ist Sammelplatz für den MANV, bringen Sie ihn dorthin.” Dann war das Auto schon wieder weitergefahren. Ich vermutete, dass darin ein Zivilpolizist gewesen war.

Da meine Kollegen schon wieder am anderen Ende der Stadt waren, hievte ich den Mann alleine in den hinteren Teil des AX-Media Vans. Dort befand sich das Equipment für eventuelle Liveberichtserstattungen, und wenn man den Stuhl zur Seite räumte, war, neben dem Tisch mit Computern, auf dem Boden genügend Platz, einen ausgewachsenen Menschen in der stabilen Seitenlage zu transportieren.

Mit eingeschalteter Warnblinklichtanlage fuhr ich zurück zu dem Ort, an dem vor fünf Minuten noch gefühlsmäßig der dritte Weltkrieg geherrscht hatte.

Der Kommandant der Berufsrettung höchstpersönlich war vor Ort, ein Bit stand am Rand geparkt. Ich lud meinen Patienten aus und schnappte ein paar Sachen aus dem Notfallrucksack eines Kollegens.

Die ganze Behandlung der Verletzten aufzuzählen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Was mich jedoch tief erschütterte, war folgendes: Da lag ein Mann, der Kleidung nach zu urteilen, ein Mitarbeiter einer Geldtransportfirma. Unter Schmerzen stöhnte er, ob die Entführer weg seien. Keine drei Meter neben ihm zog ein Sanitäter gerade die Maske vom Gesicht eines Täters, sodass dieser besser atmen konnte. Vom eben noch dagewesenen Blaulichtmeer der Polizei war nichts mehr zu sehen. Später erzählte der Kommandant, dass nur kurz zwei Streifen vor Ort geblieben waren und dann verschwunden seien.

Da liegt man mit Schussverletzungen, schwer traumatisiert, da man gerade als Geisel genommen wurde, blutend auf dem Asphalt – und neben dir der Mann, der dich mit einer Waffe bedroht, in ein Fahrzeug gezerrt und mitten in einen Kugelhagel gebracht hat. Ohne Handschellen, ohne Polizisten, die dich vor ihm schützen würden. Wie ist so etwas in einem modernen Land wie Österreich nur möglich?

 

Es klingt vielleicht seltsam, aber es war ein Glücksfall für den Rettungsdienst, dass die Personen so schwer verletzt waren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre einer der Täter noch in der Lage gewesen, erneut zu seiner Waffe zu greifen.

Natürlich zog das ganze ein Nachspiel nach sich und ich bin sicher, dass der Fall polizeiintern kritisch aufgearbeitet wurde. Zudem kümmerte sich mein Chef um einige Interviews mit den zuständigen Personen. Dennoch, das Image der Polizei erhielt an diesem Tag einen erheblichen Knacks.

 

Die Täter waren auf alle Fälle wütend auf die Polizei, die sie einfach niedergeschossen hatte, trotz der Geiseln an Bord. So sollte die Aktion bei Wien Mitte sicherlich ihre Art der Rache sein. Die gleich gekleideten Personen begannen, sich Masken aufzuziehen und liefen dann zu einem Polizeiauto, das in der Nähe parkte. Ein Mann hatte einen Benzinkanister dabei und begann, dessen Inhalt über das Fahrzeug zu gießen. Wir, mein Chef, die Lilie, die Katze und ich beobachteten das Ganze von Weitem. Ich glaube, hätte ich in dem Auto gesessen, wäre ich vor Angst und Panik gestorben.

Schon bald näherte sich die Verstärkung für den einzelnen Polizisten im Funkwagen. Kurz zogen sich die Grauen, wie ich sie in Gedanken nannte, zurück. Doch dann eskalierte die Situation. Ich bekam nicht alles mit. Die Exekutive war plötzlich mit ihrem gepanzerten Survivor vor Ort und rammte ein eigenes Polizeiauto, das von den Grauen gerade gestohlen wurde. Schließlich fielen Schüsse. 

Wir brachten uns in Sicherheit, einige rannten in den Billa bei Wien Mitte, andere gingen hinter einer kleinen Mauer in Deckung.

Die Schüsse verstummten für einen Moment, doch gerade als wir aufatmen wollten, ging es erneut los. Erst nachdem für längere Zeit Stille eingekehrt war, trauten wir uns zum Parkplatz, dem Hauptort des Massakers. 

 

Dieses Mal machte die Polizei ihren Job großartig. Einige vermummte Spezialkräfte sicherten den Platz ab. Mehrere Beamte holten ihre Notfallrucksäcke aus den Autos und verteilten diese an die Ersthelfer. Denn es gab viele Zivilisten mit einer unglaublichen Zivilcourage. Die meisten hatten zumindest noch genügend Erste-Hilfe-Wissen von längst vergangenen Führerscheinkursen, dass sie eine ganz passable Reanimation durchführen konnten. Auch wenn ich nicht im Dienst war, als Notfallsanitäterin hatte ich in dem Moment wohl den höchsten medizinischen Ausbildungsgrad vor Ort. Ich lief von Patient zu Patient, stopfte dort Verbandsmaterial in die Bauchschusswunde, legte hier einen Guedeltubus und klebte dort ein paar Defibrillationspads auf den Oberkörper und erklärte einem Zivilisten, die Atmung eines Bewusstlosen im Blick zu behalten. Als die Rettung endlich eintraf, hatte ich einen ganz guten Überblick: Wer war in der Triagekategorie Rot, wer konnte länger warten, für wen war es vermutlich schon zu spät? Rasch konnte der MANV abgearbeitet werden, auch dank der vielen Ersthelfer und der ebenfalls alarmierten Feuerwehr, die bei den Reanimationen unterstützte.

 

Es war ein Moment, in dem das Gehirn einfach nur noch funktionierte und die gesamten Algorithmen abspielte, die ich in meiner Ausbildung gelernt hatte. ABCDE, kritisch, nicht kritisch, und vieles mehr. Obwohl es stressig war, fühlte ich mich in dem Moment gut. Ich hatte den Eindruck, hier genau richtig am Platz zu sein. Dafür hatte ich meine Ausbildung gemacht, dafür hatte ich geübt, jetzt galt es, jetzt konnte ich mich beweisen. 

 

Danach war eine Weile Ruhe. Bis zu der erschütternden Alarmierung: MANV im gesamten Gebiet. Der Disponent war wohl ziemlich überfordert, wusste nicht ganz, was er schreiben sollte, Hauptsache irgendetwas, um weitere Kräfte nachzufordern. Also fuhr ich zum zweiten Mal zum AKH, wechselte in die blau-rote Uniform, schnappte den RTW-Schlüssel und meldete mich im Funk. Dort wurde die Situation nun klarer geschildert. Die Einsatzstelle befand sich in der Nähe der Lederhos’n Bar in Mödling. Den Bereitstellungsraum, den wir uns im Übrigen selbst suchen mussten, errichteten wir neben der Justizanstalt, halb verdeckt hinter dem Empfangsgebäude. Die Feuerwehr war ebenfalls mit von der Partie, baute einen Pavillon gegen den strömenden Regen auf und organisierte die Einsatzleitung. Die Position hinter den Mauern in Deckung war wohlweislich gewählt, denn es fielen immer wieder Schüsse. Diese hatten auch dafür gesorgt, dass wir keine Vorgaben der Polizei erhalten hatten. Anscheinend waren alle eingesetzten Exekutivbeamten verletzt irgendwo in diesem Schlachtfeld. 

Es dauerte lange, bis nachgeforderte Kräfte aus Wien ankamen, ausgerüstet mit dem Survivor. Damit fuhren sie mitten zwischen die fliegenden Kugeln, sammelten einen Patienten ein, kamen zurück und warfen ihn wortwörtlich vor unsere Füße, bevor sie wieder Richtung Schüsse rasten.

Ich kümmerte mich um den ersten Verletzten, die übrigen rückten mit ihren Einsatzfahrzeugen weiter vor, auf der Suche nach weiteren Opfern des Schusswechsels. Für viele kam unsere Hilfe leider zu spät. Zu lange konnten wir nicht handeln, zu lange wurde keine erste Hilfe geleistet. Ich fragte mich, warum man so etwas tat. Selbst wenn die Täter wütend auf die Polizei waren, sei es wegen dem vereitelten Anschlag auf den Konvoi oder wegen allgemeiner Unzufriedenheit, warum konnte man nach verübter Racheaktion nicht Ruhe geben? Warum musste man ein zweites Mal zuschlagen, und warum konnte man nicht einfach flüchten und den Rettungsdienst in Ruhe arbeiten lassen, um Leben zu retten? Schon lange hatte ich mich nicht mehr so hilflos gefühlt.