Dieses Audio wurde gesprochen von: Daniel
KAPITEL 21
Begegnung mit dem Tiger
Mit den meisten Menschen pflegte ich ein gutes oder zumindest neutrales Verhältnis und ich glaube, die meisten hatten entweder ein positives oder schlicht gar kein Bild von mir. Wie gesagt, bei den meisten. Und dann gab es da noch den weißen Tiger. Dieses Bild kommt mir am ehesten in den Kopf, wenn ich an ihn denke. An einen sumpfigen Wald, der am Rand in weite Steppe übergeht. Das Gras der Steppe wirkt grau im fahlen Mondlicht und zwischen den hohen, fast schwarzen Bäumen kriecht Nebel in die weite Fläche hinaus. An dieser verschwommenen Grenze begegnen sich ein weißer Tiger, unter dessen Fell sich die Muskeln spannen und der sich trotz seiner Größe völlig lautlos bewegt, und eine Löwin, ein wenig kleiner, doch mit der Eleganz, wie sie nur Raubkatzen haben. Sie halten kurz inne und schauen sich stumm in die gelb leuchtenden Augen, erstarrt in gegenseitiger Ehrfurcht und Respekt, bevor sie, ohne ein weiteres Wort, beide ihren Weg in ihrem Teil der Natur fortsetzen, ohne zu wissen, ob sich ihre Wege je wieder kreuzen würden. So ein flüchtiger, mystischer Moment…
Nun ja, manchmal kann ich meine poetische Ader schwer bremsen. Auf alle Fälle ärgert es mich sehr, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wann und wo wir uns das erste Mal begegnet sind, denn sonst könnte ich vielleicht herausfinden, was damals schiefgelaufen ist. Denn aus irgendeinem Grund hatte der weiße Tiger anscheinend gehörigen Respekt vor mir oder hielt mich einfach für ein grundlegend bösartiges Wesen. „Wenn die Frau Scharfenstein in der Nähe ist, dann muss ich immer genau aufpassen, was ich mache.”, erklärte er einmal, „Ich hab immer das Gefühl, dass die mich wegen allem anzeigen will.“
Im Umgang miteinander pflegten wir die höchsten Formen der Höflichkeit, wohl aus gegenseitigem Respekt voreinander. Als ich mich mit einer Polizistin anfreundete, fand ich auch endlich den Namen des weißen Tigers heraus, denn bis dahin wusste ich nur, dass es sich um einen Polizeibeamten handelte.
Ich machte den großen Fehler, der Katze zu erzählen, dass ich den weißen Tiger interessant fand, einfach nur so als Persönlichkeit, und dass ich gerne einen besseren Eindruck auf ihn machen wollte. Die Katze sah das als Auftrag, ein Treffen zu organisieren. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Telefonnummer des weißen Tigers und während ich wehrlos am Steuer des Ax-Media-Vans saß und mich aufs Fahren konzentrieren musste, rief sie ihn einfach an und erzählte, sie sei die Assistentin von Frau Scharfenstein, und natürlich könnte ich ihm eine Schulung zur Weiterbildung im medizinischen Bereich geben. Ein paar Tage zuvor war der weiße Tiger nämlich auf der Rettungswache aufgetaucht, hatte sich diese angeschaut und um eine Weiterbildung gebeten.
Während die Katze munter ins Handy quatschte und ich hektisch versuchte, zum Wald, wo kein Handyempfang mehr war, zu fahren, schrammte ich auch noch an einer Mauer entlang und verursachte einen dicken Kratzer. Die Reparaturrechnung zahlte ich dann später selber, damit ich nicht dem Chef erklären musste, warum das Firmenauto schon wieder beim ÖAMTC gewesen war. Einige Tage später kam das Treffen dann tatsächlich zustande. Wir fuhren einen Einsatz miteinander, er machte seine Arbeit großartig, verstand es, SAMPler anzuwenden, Fixierungsfehler zu vermeiden und sich gut mit dem Patienten zu unterhalten. Viel anmerken konnte ich da nicht. Bei der Rückkehr zur Wache standen dann einige Kollegen draußen im Kreis. Sie erzählten ihre Geschichten, machten ihre Witze, eben so wie immer. Aber manchmal, da waren mir ihre Sprüche einfach zu viel. Ich hatte mich inzwischen an einiges gewöhnt, die Witze unter der Gürtellinie ignorieren gelernt. Doch wenn ich mit etwas nicht gut zurecht kam, dann war es die Respektlosigkeit, die gewisse Personen an den Tag zu legen pflegten, zumindest solange, wie kein Vorgesetzter hinschaute. Und so verließ ich die feixende Truppe und damit auch den weißen Tiger, um meine Ruhe zu haben, wenn auch mit Bedauern. Einsätze waren eh keine, und der weiße Tiger schien sich hervorragend mit ihnen zu verstehen. Ganz so dringend war die Weiterbildung für ihn anscheinend nicht.