Dieses Audio wurde gesprochen von: Vivi

KAPITEL 3

Hansen!

 

Ich hatte bereits meine Prüfung zur Rettungssanitäterin bestanden, als Hansen als Praktikant zu uns kam. Er fuhr oft bei mir auf dem RTW mit. Die Chemie stimmte und wir konnten gut zusammenarbeiten. 

Er gehörte zwar auch eher zu der Sorte Menschen, die nie so ganz erwachsen werden und immer den Schalk im Nacken sitzen haben, aber er war nicht unverfroren frech, wie manch anderer Praktikant. Zudem wusste Hansen auch, wann es genug war, oder zumindest meistens. Wenigstens hörte er auf das, was ich sagte.

Und ich musste oft etwas sagen. Wahrscheinlich stammte Hansen insgeheim aus einer Zeit vor 1958, denn wenn er etwas vergaß, dann war es das Anschnallen. So wurde “Hansen, Anschnallen!”, wohl zu meinem zweithäufigsten Satz, ihm gegenüber, gleich nach einem einfachen “Hansen!” in strenger oder genervter Tonlage.

Zu seiner Rechtfertigung muss ich aber auch sagen, dass ich ihn wohl häufig mit meiner Abenteuerlust überrumpelt hatte. 

Die erste gemeinsame Wanderung, zu der er mitkam, weil ihm schlicht und ergreifend dermaßen langweilig war, dass er sogar zu Sport bereit war, entwickelte sich mehr und mehr zur Kletterpartie über steile Abhänge bei Nacht und Nebel. Trotzdem war er dabei und hielt durch bis zum Schluss.

Ich glaube, ich war für ihn ein Anstoß, selbst seine Umwelt zu erkunden und sich für kleine Besonderheiten zu begeistern. Denn später kam er von selbst immer wieder mit neuen Orten an.Eine Bucht mit riesiger Höhle oder ein Sumpfgebiet, das ich ohne ihn wohl nie entdeckt hätte.

Wir waren viel zusammen unterwegs, freundeten uns an. Zu Beginn war es dieses typische “zwei einsame tun sich zusammen, damit sie nicht einsam sind”, doch mit der Zeit lernte ich ihn als guten Freund schätzen. Da war nun neben der Arbeit bei der Berufsrettung und dem AustriaX-TV, eine zweite, persönliche Konstante in meinem Leben. Jemand, der mir Halt gab, der immer da war, fast wie ein großer Bruder, wobei, bei dem Blödsinn, der Hansen im Kopf herumspukte, war es wohl mehr ein kleiner Bruder. Ein kleiner Bruder, auf den man aufpassen musste, der Quatsch machte, aber einen auch immer wieder zum Lachen brachte… Nein, Hansen konnte Moritz nicht ersetzen, das konnte niemand, aber ich hatte ein winziges Stück Familie zurück. 

 

Und ausgerechnet dieses Stück Familie hätte ich beinahe verloren. Es lag nicht an einer dummen Aktion von Hansen, sondern der Fehler lag bei mir. Ich hatte etwas erzählt, was er mir im Geheimen anvertraut hatte – um denselben Fehler nicht noch einmal zu begehen, werde ich das hier nicht weiter erklären – und verständlicherweise war er danach enttäuscht von mir. Ich hatte mir gar nichts dabei gedacht, erst viel zu spät fiel es mir auf. Danach herrschte zunächst Funkstille. Ich machte mir zum Teil ernstlich Sorgen um ihn.

Schließlich trafen wir uns in der Naturschutzhütte, in der wir nicht lange zuvor beschlossen hatten, einen Verein zum Schutz der Natur zu gründen, um zu reden. Er erklärte seine Sicht, ich meine. Doch was sollte ich schon groß sagen. Denn ich wusste, dass er Recht hatte, und ich Mist gebaut hatte und eine bloße Entschuldigung nicht ausreichte. Als er dann meinte, unter diesen Umständen sei keine Freundschaft möglich, konnte ich ihm nur zustimmen. Wir legten die Beziehung auf Eis.

Ich verließ die Hütte mehr wie in Trance als bei Bewusstsein. Es war der erste harte Schlag nach der Ruhe nach dem Sturm, aber der saß. Ich hatte einen guten Freund verloren, und ich war selbst schuld und ich konnte es einfach nicht wieder ungeschehen machen. Nebenbei musste ich so spielen, als sei nichts gewesen, als ein paar Kollegen der Rettung auftauchten. Ich wollte nicht, dass sie alles mitbekamen, das war eine Sache zwischen mir und Hansen.

Auch wenn ich wusste, dass unsere Freundschaft allein von der Bereitschaft von Hansen, mir zu vergeben, abhing, so wollte ich wenigstens noch das sagen, was mir in der Naturschutzhütte nicht über die Lippen gekommen war.

Daher nutzte ich die folgende Auszeit für ein neues literarisches Werk, nicht für den AX-TV, sondern für Hansen, einen absoluten Kakaoliebhaber:

 

Verschütteter Kakao

 

Ich weiß es ganz genau, 

Du musst nicht fragen,

Nicht viel sagen,

Denn ich weiß du hast recht.

 

Was soll ich erklären, dafür braucht es keine Worte,

Weiß doch selber ganz genau, wo der Fehler lag, von welcher Sorte, 

Einer der übelsten

Die man wohl machen kann.

 

Und verschütteten Kakao bekommt man nicht zurück

Jedes unbedachte Wort, zerstört nur weiter,

Noch ein Stück, noch ein Stück

weiter weg von Freundschaft

 

was soll ich entschuldigen, hab Vertrauen verspielt,

mit scharfer Waffe gezielt,

kann die Uhr trotzdem nicht linksherum drehen

und wenn du mich jetzt hasst

was sollte ich tun

außer schweigen

und dich ziehen lassen?

 

Denn verschütteten Kakao bekommt man nicht zurück

Jedes unbedachte Wort, zerstört nur weiter,

Noch ein Stück, noch ein Stück

weiter weg von Freundschaft

 

mir bleibt nur Erinnerung, und wieder geht etwas kaputt

und diesmal bin ich wirklich schuld

nach einem Brand bleibt nur noch Schutt

auch wenn er nur im Herzen war.

 

Weiß nicht, ob du Vergebung kennst, 

doch das kann man nicht erzwingen

Wunden brauchen ihre Zeit,

heilen auch nie, in solchen Dingen

habe ich mehr Erfahrung,

als du denkst.

 

Und verschütteten Kakao bekommt man nicht zurück

Jedes unbedachte Wort, zerstört nur weiter,

Noch ein Stück, noch ein Stück

weiter weg von Freundschaft

 

Kann ja doch nicht mehr sagen

außer “Es tut mir leid”

und hoffen und warten

das jemand verzeiht.

 

Noch bevor ich den PoetrySlam vortragen konnte, hatte mir Hansen schon verziehen. Die Zeit ohne unsere gemeinsamen Unternehmungen war ihm so lang und öde vorgekommen, und als ich einmal wieder wegklappte, weil sich ein Auto entzündet hatte, aus dem ich gerade einen Patienten befreien wollte, machte er sich ernstlich Sorgen um mich. Trotzdem las ich es ihm vor, geschrieben ist geschrieben.

 

Wir hatten immer wieder Streitpunkte, aber das war normal. Zum Beispiel störte es mich sehr, dass er mich so oft einlud. Ich war doch erwachsen und selbstständig, ich wollte selbst für mein Essen zahlen, während er sich freute, etwas zurückgeben zu können. Aber ich wollte überhaupt nichts zurückbekommen. Ich wollte, dass er selbst blieb und sich selbst fand. Denn was ist schon eine Beziehung wert, in der der eine den anderen komplett nach seinen Wunschvorstellungen verändert.

Wir redeten darüber. Erst wirkte er ziemlich getroffen, es tat mir fast schon wieder leid, das Thema überhaupt zur Sprache gebracht zu haben. Schließlich verstanden wir aber die jeweils andere Sichtweise.

 

Hansen und ich haben eine ähnliche Art, auf Beziehungsprobleme zu reagieren. Zunächst der Rückzug, entweder einsam schmollen oder sich allein den Kopf zerbrechen… und der andere nervt dann so lange, bis er weiß, wo du bist. Dann reden wir wieder miteinander, manchmal braucht es auch mehrere Anläufe. 

So wie an dem Tag, an dem ich Hansen am LKH Mödling vergaß.

Wobei, eigentlich hatte ich ihn nicht vergessen. Den Dienst begonnen hatten wir zu dritt. Nachdem wir eine Weile gelangweilt durch Mödling gestreift waren, wurden wir zurück nach Wien beordert. Allerdings liefen die Funksprüche etwas durcheinander. Erst hieß es, wir hätten einen Einsatz, dann einfach nur einrücken zur Wache und dann die Frage, wie viele RTWs wir besetzten und hin und her.

Schlussendlich fuhren mein Kollege und ich los, Richtung AKH und Hansen blieb zurück. 

Erst war es mir gar nicht so bewusst, ich tat es als Versehen ab. Doch dann war Hansen den Rest des Tages angefressen und mir wurde klar, was eigentlich passiert war. Ich hatte ihn zurückgelassen.

 

Zurückgelassen.

Und plötzlich entstand eine neue Angst in mir. Hatte ich nicht schon damals alle zurückgelassen und war feige davon gerannt? Was, wenn es wieder passieren würde? Würde ich Hansen im Feuer zurücklassen? 

Weil ich mit Hansen nicht reden wollte, weil ich plötzlich die Sorge hatte, schlecht für ihn zu sein, stand ich mit meinen Sorgen schließlich verheult bei der Freiwilligen Feuerwehr vor der Tür. Ich hatte dem alten Hasen geschrieben und gefragt, ob er Zeit hätte. 

Der “alte Hase” war keinesfalls alt, er lebte einfach schon so lange in Wien, dass er so ziemlich jeden Winkel und jede wichtige Person hier kannte. Ich hatte ihn vorm AKH kennengelernt, kurz nach meiner Ankunft in Wien. Solange man nicht mit ihm darum diskutierte, wer recht hatte, war er ein sehr gemütlicher Mensch. Wann immer mir ein Missgeschick passierte, fragte ich ihn um Hilfe. Er schien alles zu wissen und er war eben auch in der Freiwilligen Feuerwehr.

 

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, vom Feuer, von meiner Familie, von Hansen. Der alte Hase hörte zunächst einfach nur zu, dann versuchte er, mich zu beruhigen und schlug vor, mir bei meinem Feuerproblem zu helfen. 

Zwischendurch hörte ich kurz die Stimme eines Kollegens von der Berufsrettung, ich nenne ihn den Trickster, der sich anscheinend bei dem Regenwetter draußen unterkühlt hatte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es tatsächlich so war oder er einfach einen Vorwand gesucht hatte, in die Wache zu kommen und Hansen ihn eventuell geschickt hatte. Denn die beiden waren ziemlich gut befreundet und zusammen wohl die größten Kindsköpfe, die es gibt. Trotzdem konnte ich den beiden schlecht etwas wirklich übel nehmen. 

Auf alle Fälle brachte einer der Feuerwehrmänner dem niesenden Trickster einen Tee in den Flur, während der alte Hase und ich weiter sprachen.

Danach war ich zumindest so weit beruhigt, dass ich wieder bereit war, mit Hansen zu sprechen. Wir trafen uns auf der Dachterrasse des Fischrestaurants an der Autobahn, dort, wo wir unsere allererste Wanderung gestartet hatten.

Hansen war enttäuscht, nicht, dass ich ihn vergessen hatte, sondern weil wir eigentlich abgemacht hatten, immer über alle Probleme zu reden. Nun, jetzt redeten wir auf alle Fälle und sprachen die Schwierigkeiten an. Und siehe da, es kam alles wieder in Ordnung, allein durch Reden.