Dieses Audio wurde gesprochen von: Rebekka und Vivi

PROLOG

Wer interessiert sich schon großartig für das Leben einer einundzwanzig jährigen? Vielleicht keiner, vielleicht zwei?

Nachdem ich das Grab meines Großvaters hier in Wien besucht hatte, wurde mir klar, dass von mir eines Tages mehr überbleiben sollte als ein grauer Granitblock mit Namen und Daten.

Wenn ich schon keine Familie hatte, mit der ich meine Gedanken teilen kann, dann will ich sie eben der Welt mitteilen. Ich will Dinge sagen, die gesagt werden müssen, die ich aber vielleicht den Menschen nie ins Gesicht sagen würde, weil meine Stimme zu schüchtern oder zu leise oder zu unwichtig ist.

Doch genug der Vorrede kommen wir zur Geschichte. Einer Geschichte mit Höhen und Tiefen, witzigen Sprüchen und tragischen Ereignissen. Aber vor allem einer Geschichte der Hoffnung, der Hoffnung des Neuanfangs.

KAPITEL 1

Von Neuanfängen, Geschäftsmännern und Kavalieren

 

Mein Name ist Rebekka Scharfenstein, geboren am 10.01.2001 im St. Joseph-Stift Krankenhaus in Dresden, aufgewachsen in Rathen, am Fuße der Basteibrücke der Sächsischen Schweiz.

Allerdings soll das nicht der Startpunkt meiner Reise sein, denn meine Kindheit verlief wohl so normal, wie sie nur sein konnte. Ich beginne stattdessen mit einem Ort, den voraussichtlich jeder hier kennt: der Flughafen in Wien.

 

Der Himmel war klar, nur einzelne, bauschige Wolken zierten das Blau am Tag meiner Einreise. Cumulus, so hatte ich es in der Bergwacht gelernt, ganz am Anfang. Am Horizont wurden sie dichter und dunkler. Es sah nach Regen aus, doch zum Glück war ich fast da: Wien lag direkt unter uns, das Flugzeug flog die letzte Kurve, um dann Richtung Landebahn einzuschwenken. In der Ferne konnte ich die Gipfel der Alpen erkennen. Wehmut stieg in mir auf, in Erinnerung an die Wanderungen mit meinem Großvater. Wie oft war ich als Kind in diesen Bergen herumgeklettert? Opa kannte alle Wege und Pfade, jeden geheimen Aussichtspunkt, mystische Schluchten und windige Gipfel. 

Allzu sehr konnte ich den Ausblick jedoch nicht genießen. Ich war müde, erschöpft, und auch ziemlich durcheinander und so lag ein flaues Gefühl schwer in meinem Magen, als ich die Gangway entlang zum Flughafengebäude schritt. Ein Beamter fragte mich nach meinem Ausweis. Ich fühlte mich überrumpelt, suchte hektisch nach meinem Portemonnaie und zog es schließlich so schwungvoll aus der Tasche, dass ich dem Polizisten hinter mir den Ellenbogen gegen das Kinn rammte. 

Peinlich.

Zum Glück nahmen sie mir mein Missgeschick nicht übel, trotzdem hatte ich mir meinen Neuanfang irgendwie anders vorgestellt.

 

Und ein Neuanfang war es, oder eher ein “Bei-Null-anfangen”. Mein Gepäck bestand aus einem einzigen Rucksack. Mehr war mir nicht geblieben, nur das Nötigste. Ich kannte niemanden in Wien, konnte mich auch an keinen Straßenzug mehr erinnern. Ich wusste nur, dass hier mein Großvater gelebt hatte und dass wir ihn als ganze Familie oft besucht hatten und im Urlaub in den Bergen gewandert waren. Es ist die letzte glückliche Erinnerung an meine Familie, die nicht von dieser einen Nacht überschattet wurde. Denn Wien war nicht Rathen und deshalb war ich hierher gekommen: Um die schönen Erinnerungen wieder mit Leben zu füllen, die schrecklichen zu vergessen und den mitleidigen Blicken der Nachbarn und Bekannten zuhause zu entfliehen.

 

Mein Rucksack wurde durchleuchtet, draußen wartete ein Bus auf mich. Anscheinend war ich die Letzte gewesen, die durch die Kontrolle musste, denn kaum war ich eingestiegen, fuhr der Bus los. Der Busfahrer stellte mir ein paar Fragen, wie ich hieß, wo ich herkam. Die Art kam mir vertraut vor, obwohl er mit starkem wienerischen Akzent sprach. Unwillkürlich musste ich an unsere Busfahrer in Sachsen denken und über die Ähnlichkeiten schmunzeln. Busfahrer sind schon besondere Menschen. Vorbilder für Schulkinder, tragen eine große Verantwortung und haben ihre ganz eigene Art von Humor. Die Welt wäre arm dran ohne Busfahrer.

 

Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern, die mit im Bus saßen. Nur an einen noch recht jugendlich wirkenden jungen Mann, der wie ein Möchtegern-Gangster klang, die ganze Zeit Sonnenblumenkerne knabberte und diese dabei im ganzen Bus verteilte. Und an einen älteren Herrn, welcher, nachdem ihm der fünfte Sonnenblumenkern in den Kragen gefallen war, dem jungen Mann gehörig die Meinung geigte.

Ich war froh, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich zogen und ich in Ruhe den Erläuterungen des Busfahrers zur Stadt lauschen konnte. Allerdings verlor ich in dem Gewirr aus Brücken und Kreuzungen schnell die Orientierung. In den Bergen fiel es mir definitiv leichter, den Überblick zu behalten.

In den ersten Tagen sprach ich mit so gut wie niemandem. Ich erledigte Einkäufe im Billa, brauchte ein neues Handy und machte den österreichischen Führerschein. Und dann stand ich da, allein in der großen Stadt. War es richtig gewesen, hierherzuziehen? Ich kannte hier doch niemanden. Neu anfangen war doch nicht so einfach, wie ich gehofft hatte.

 

Die ersten beiden Personen, die ich in Wien kennenlernte, waren der Geschäftsmann und der Kavalier. Ich nenne sie der Einfachheit halber so, denn ich weiß nicht, ob es ihnen recht wäre, namentlich genannt zu werden.

Den Geschäftsmann traf ich im Stadtpolizeikommando. Wir warteten beide auf einen Beamten, der uns einen Strafregisterauszug ausstellen konnte. Er trug eine, um es diplomatisch auszudrücken, sehr interessante Kombination aus beigem Anzug und dunkelblauer Krawatte. Wir kamen ins Gespräch und unterhielten uns eine Weile, bis ein Polizist auftauchte und uns mitteilte, dass aktuell kein Beamter verfügbar sei. Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man zumindest so, und darum beschlossen wir, die Zeit mit einer Stadtrundfahrt zu vertreiben. Gesagt, getan. Der Geschäftsmann holte sein Taxi von der Zentrale und dann ging es los. Von Wien Mitte die Autobahn hoch nach Mödlingen, weiter bis Wiener Neustadt und dann wieder zurück nach Wien. Wir legten einen Zwischenstopp ein, um die Lichter Wiens bei Nacht zu bewundern, und mich beschlich das Gefühl, dass er mit mir flirten wollte. Ich war unsicher, wie ich reagieren sollte. Natürlich, er war nett, und ich war froh, jemanden kennengelernt zu haben. Aber für mehr als Freundschaft war ich weder bereit noch wäre er wohl der richtige Typ dazu.

Also kommentierte ich kurz und höflich, als er mir den Prater zeigte und aufzählte, was man in Wien in seiner Freizeit alles machen konnte. Irgendwann kehrten wir zurück zum Stadtpolizeikommando.

Der Geschäftsmann stellte mir eine Rechnung aus. Gut, irgendwie hatte ich es kommen sehen. Aber ich war mir nicht ganz sicher gewesen, schließlich hatte er mich erst zu der Rundfahrt überredet und mit mir geflirtet.

 

Im Foyer des Polizeikommandos fragte mich der Geschäftsmann, wieso ich so hübsch sei. Die anwesenden Polizisten fanden die Frage sehr amüsant und bemühten sich nach Kräften, ihm Flirttipps zu geben.

Im Nachhinein war es eine urkomische Situation, doch vor Ort kam ich mir wie der größte Depp vor und blieb stumm. Was sollte ich auch sagen, es war das erste Mal in meinem Leben, dass jemand mit mir flirtete und mir fehlte die nötige Schlagfertigkeit, dem etwas entgegenzusetzen.

Eins hat der Geschäftsmann jedoch sicher: Den Platz der ersten Person, deren Nummer ich in meinem Handy abgespeichert habe.

 

Dank des Geschäftsmannes lernte ich auch den Kavalier kennen. Ich lief gerade an den Springbrunnen in Wien Mitte vorbei. Der Geschäftsmann stand mit seinem schwarzen Taxi auf dem Parkstreifen und versuchte, vorbeikommenden Passanten Wohnungen zu verkaufen oder abzukaufen. Wir unterhielten uns kurz, dann begrüßte er den Kavalier. Der Himmel war bereits seit geraumer Zeit dicht verhangen und so fing es wie zu erwarten an zu schütten. Vor dem Regen flüchteten wir zu dritt ins Taxi. Draußen trommelten die Regentropfen dumpf auf das Dach, drinnen redeten wir über alles Mögliche, auch darüber, dass ich eines Tages den Großglockner besteigen wollte, oder einfach mal eine Fahrradtour machen wollte. Gesagt, getan: Der Geschäftsmann fuhr los, über die Westautobahn nach Norden zum Fahrradverleih, währenddessen wurde auch der Regen weniger. Dort angekommen, erwartete uns eine doppelte Enttäuschung. Zunächst hatte der Geschäftsmann gar nicht vor, uns auf der Tour zu begleiten. Sowohl der Kavalier, als auch ich hatten eigentlich damit gerechnet. Stattdessen berechnete der Geschäftsmann lediglich die Fahrt, welche der Kavalier bezahlte, und fuhr dann mit seinem Taxi davon. Plötzlich standen wir alleine da, dabei kannten wir uns gar nicht.

Als Zweites hatte zu allem Überfluss der Fahrradladen auf unbestimmte Zeit geschlossen. Glücklicherweise hatte der Kavalier in der Nähe sein Auto in der Garage stehen und so lief er los, um es zu holen, während ich am Parkplatz auf ihn wartete. Zusammen fuhren wir zurück in die Stadt.

Warum ich ihn den “Kavalier” genannt habe? Wir haben uns danach noch öfters getroffen. Er war immer höflich und zuvorkommend, hat mir die Autotüre aufgehalten. Anfangs dachte ich, er hätte vielleicht Angst um sein Auto, aber nachdem er mich ein Stück damit fahren lassen hatte, musste ich diese Vermutung streichen. Wer jemanden mit meinen Fahrkünsten ans Steuer lässt, muss wohl Nerven aus Stahl haben. Aber so war er einfach schlicht ein Gentleman. Im Fitnessstudio rettete er mir einmal sogar das Leben. 

Ich kann nicht mehr sagen, woran es genau lag, vermutlich hatte ich vorher beim Training übertrieben oder mit irgendetwas gezerrt. Jedenfalls, kaum dass ich ins Wasserbecken gesprungen war, schoss ein plötzlicher Schmerz durch meine rechte Wade, die sofort verkrampfte. Vor Schreck schnappte ich nach Luft – eine denkbar dumme Reaktion, wenn man sich gut einen Meter unter der Wasseroberfläche befindet. Statt Sauerstoff strömte Wasser in meine Luftröhre, ich versuchte zu husten – auch das ist ein sehr unsinniges Unterfangen unter Wasser – und verschluckte mich noch mehr. Ehe mich die aufsteigende Panik vollends um den Verstand bringen konnte, verlor ich das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, kniete ein Sanitäter neben mir. Der Kavalier musste mich wohl aus dem Becken gefischt und die Rettung verständigt haben. Die Polizei war ebenfalls vor Ort und ließ sich vom Kavalier den Unfallhergang erklären. Zur Sicherheit brachte man mich ins Krankenhaus, der Kavalier fuhr hinterher. Nach einigen Kontrollen wurde ich entlassen, nur leider waren irgendwo zwischen Fitnesscenter-Umkleide und Krankenhausbett meine Klamotten abhandengekommen. Der Kavalier schenkte mir einen etwas zu großen, grauen Pullover, den ich immer noch in Erinnerung an ihn aufbewahre.

 

Auch wenn ich den beiden inzwischen nur noch zufällig begegne und wir nichts miteinander zu tun haben, so bin ich doch dankbar für diese Begegnungen. Sie halfen mir, in Wien anzukommen und damit meine größte Sorge zu überwinden.